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Jedem nach seinem Geschmack

Weil die Pestizidrichtlinie das Grundwasser nicht schont, weicht die Europäische Kommission strenge Grenzwerte für Trinkwasser auf  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Die Europäische Union gibt ihren Widerstand gegen die Vergiftung des Grundwassers schrittweise auf. Vor knapp einem Monat haben die Landwirtschaftsminister der zwölf EU-Staaten der Pestizidrichtlinie einen Anhang verpaßt, der in Deutschland verbotenen Agrargiften wieder eine Chance gibt. Jetzt arbeitet die Europäische Kommission an einer neuen Trinkwasserrichtlinie, die den Realitäten auf europäischen Äckern angepaßt sein soll. Der erste Entwurf läßt bei Wasserwerken und Umweltverbänden die Alarmglocken läuten.

Die beiden Richtlinien, die europäischen Gesetzen entsprechen und deshalb über nationalem Recht stehen, hängen eng miteinander zusammen. Die 1991 beschlossene und jetzt ergänzte Pestizidrichtlinie regelt, was die europäischen Bauern an Pflanzen- und Insektengiften auf die Felder spritzen dürfen und was nicht. Die ältere Trinkwasserrichtlinie von 1980 schreibt vor, was davon auf dem Umweg übers Grundwasser durch den Wasserhahn ankommen darf. Je mehr Chemie auf Weizen und Kartoffeln gekippt wird, desto mehr landet im Grundwasser. Jahr für Jahr versprühen die EU-Bauern rund 300.000 Tonnen Unkraut- und Insektenkiller. Doch anstatt die Zulassung von Agrargiften einzuschränken, ist die Kommission nun dabei, die Trinkwasservorschrift zu verwässern.

Ursprünglich sollte die Pestizidrichtlinie auf die Wasserqualität Rücksicht nehmen und nur Giftstoffe erlauben, die nicht ins Grundwasser sickern. Fast die Hälfte der 700 in Europa eingesetzten Pestizide hätten danach verboten werden müssen. Dagegen machten sowohl Bauernverbände als auch die Vereinigung der Europäischen Agrarchemie mobil. Die Richtlinie, die dann nach unternehmerischer Lobbyarbeit von der Kommission vorgelegt und 1991 von den 12 Landwirtschaftsministern beschlossen wurde, ließ alles offen.

Vor vier Wochen nun trat das Herzstück dieser Richtlinie in Kraft, getarnt als Anhang VI, der deshalb nicht einmal dem Europaparlament zur Abstimmung vorgelegt wurde. Die Landwirtschaftsminister haben darin festgelegt, daß die Bauern keine Rücksicht mehr auf das Grundwasser nehmen müssen. Bei der Zulassung von Chemikalien muß nur noch geprüft werden, ob bei sachkundiger Anwendung „das zur Trinkwassergewinnung bestimmte Grundwasser“ verunreinigt wird. So ist im Grunde jedes Gift erlaubt, solange auf der Packung steht, daß es nicht in Wasserschutzgebieten verwendet werden darf. Doch Grundwasser hält sich nicht unbedingt an die Grenzen von Wasserschutzgebieten. Der Rechtsausschuß des Europaparlaments überlegt zur Zeit, beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen die Pestizidrichtlinie zu erheben, weil sie gegen die Trinkwassergesetze verstoße. Die SPD- Vertreter im Ausschuß zögern aber noch. Manchen Parlamentariern ist es auch peinlich, zuzugeben, daß sie vor drei Jahren einer Leerformel zugestimmt haben, die jetzt mit dem Anhang VI ganz anders als versprochen ausgefüllt wurde. Daß die beiden Richtlinien nicht mehr zusammenpassen, weiß auch die Europäische Kommission. Ausgerechnet Umweltkommissar Ioannis Paleokrassas will jetzt die Trinkwasserrichtlinie an den Chemiekonsum der europäischen Landwirtschaft anpassen und deshalb die Grenzwerte lockern. Zwar sollen nach wie vor in jedem Liter Trinkwasser höchstens 0,1 Millionstel Gramm eines Pestizides vorkommen dürfen. Aber wenn mehrere Gifte zusammenkommen, dann galten bisher 0,5 Millionstel Gramm als Gesamtgrenzwert. Diese Beschränkung soll nun wegfallen. Bei 700 verschiedenen Pestiziden, von denen jedes mit 0,1 Mikrogramm vorkommen darf, wäre die Skala nach oben offen. Die letzte Entscheidung darüber liegt bei den Umweltministern.

Außerdem möchte die Kommission, daß einzelne Länder vorübergehend eigene, laschere Grenzwerte festsetzen können. Für diese Regelung kämpfen vor allem Getränkehersteller wie Coca-Cola und private Wasserversorgungsunternehmen. An erster Stelle steht dabei der französische Konzern Lyonnaise des Eaux, der in Großbritannien Marktführer der privatisierten Wasserversorgung ist und in Frankreich in nächster Zeit die Wasserversorgung von Grenoble übernehmen soll.

Je schärfer die Grenzwerte sind, desto teurer ist es für diese Unternehmen, das Wasser durch Filteranlagen und Reinigungszusätze entsprechend aufzubereiten. Trinkwasser sei kein Naturprodukt mehr, argumentiert beispielsweise Lyonnaise des Eaux, sondern ein industriell hergestelltes Lebensmittel. Deshalb müßten auch die Kosten bei der Herstellung berücksichtigt werden.

Im Grunde laufen sowohl die Pestizid- wie auch die neue Trinkwasserrichtlinie auf eine Renationalisierung der Umwelt- und Verbraucherpolitik hinaus. Jede Regierung hat danach wieder die Möglichkeit, Sonderregeln für Pestizide zu erlassen und nach eigenem Geschmack Grenzwerte für die Belastung des Trinkwassers festzulegen. Für Deutschland wären so zwar theoretisch auch strengere Vorschriften möglich. Doch zum einen hat Landwirtschaftsminister Borchert immer wieder betont, daß er darin Wettbewerbsnachteile sehe. Vor allem aber stehen französisches Mineralwasser oder italienische Fruchtsäfte längst auch in Augsburg und Bielefeld in den Regalen. Spätestens seit dem Binnenmarkt sind Pestizide in Lebensmitteln und im Trinkwasser ein europäisches Problem.

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