Verstoß gegen das Prinzip der Wahlgleichheit

■ Interview mit dem Bremer Staatsrechtler Ulrich K. Preuß zum Thema Überhangmandate

taz: Herr Preuß, Ihr Kollege, der Verfassungsrechtler Hans Meyer, geht davon aus, daß die 16 Überhangmandate, die nach der Bundestagswahl an CDU und SPD verteilt wurden, verfassungswidrig sind. Wäre eine Verfassungsklage gerechtfertigt?

Ulrich K. Preuß: Im Grunde ist das eine Frage des Rechnens. Letztlich geht es nur darum, die abgegebenen Stimmen durch die Mandate zu dividieren, dann kommt man auf die Anzahl von Wählerstimmen, die eine Partei pro Bundestagsabgeordnetem brauchte. Entscheidend ist dann das Prinzip der Wahlgleichheit. Wenn eine Partei zwölf Überhangmandate hat wie die CDU jetzt nach der Wahl, dann reduziert sich die Anzahl der Stimmen, die die Christdemokraten für ein Mandat brauchten, erheblich gegenüber anderen Parteien.

Die CDU brauchte nach Berechnungen des „Spiegel“ rund 65.940 Wählerstimmen, um diesmal ein Bundestagsmandat zu erlangen. Die Bündnisgrünen brauchten hingegen pro Abgeordneten 69.859 Wählerinnen und Wähler. Ein grüner Abgeordneter brauchte also 4.000 Stimmen mehr als ein CDU-Abgeordneter.

Bei der Bundestagswahl von 1987, bei der nur die CDU ein Überhangmandat erlangte, lag die Differenz viel niedriger. Damals brauchte die CDU durchschnittlich 74.976 Stimmen für einen Abgeordneten, die SPD brauchte 75.407. Die Differenz betrug also rund 500 Stimmen. Das Bundesverfassungsgericht sagte damals sinngemäß, 500 Stimmen seien die übliche Abweichung, die beim Prinzip der Wahlgleichheit hinzunehmen ist. Denn jedes Wahlverfahren bringt solche Ungleichheiten mit sich. 4.000 Stimmen sind natürlich eine erheblich größere Differenz. Im Grunde ist das ein Verstoß gegen das Prinzip der Wahlgleichheit. Denn die bündnisgrünen Wähler mußten demnach 4.000 Stimmen mehr akkumulieren, um den gleichen Erfolg zu haben wie ein CDU-Wähler.

Könnte demnach eine Verfassungsklage Aussicht auf Erfolg haben?

Das Bundesverfassungsgericht blickt natürlich immer auf die Konsequenzen. Wenn ein Fehler relativ leicht korrigiert werden kann, sind die Verfassungsrichter eher geneigt, korrigierend einzugreifen. Wenn die Konsequenzen aber erheblich sind und beispielsweise Nachwahlen stattfinden müßten, dann werden die Richter vor weitergehenden Konsequenzen eher zurückschrecken. Ein Spruch könnte dann lauten: Wir nehmen die Differenz diesmal noch hin, aber der Gesetzgeber wird aufgefordert, das Bundeswahlgesetz für die nächste Wahl zu korrigieren. Kommt es zu einer Verfassungsklage, dann ist dies das wahrscheinlichste Ergebnis. Denn auf dem Spiel steht ja nicht nur das Prinzip der Gleichheit, sondern auch die Stabilität der Regierung und die Verläßlichkeit der parlamentarischen Arbeit – das sind alles Verfassungswerte, die das Karlsruher Gericht bei der Abwägung in die Waagschale werfen würde. Interview: Karin Flothmann