: „... auf eine Art ziemlich reich“
■ Bremer Sozialwissenschaftler Innen widersprechen der These „Einmal arm – immer arm“: SozialhilfebezieherInnen sind nicht vollkommen hilflos
Zynik, ja geradezu Unmoral, das werfen linke KritikerInnen dem Uni-Sonderforschungsbereich „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ vor. Der hat jetzt seine Erkenntnisse in einem Buch vorgestellt, „Einmal arm, immer arm“, herausgegeben von Michael M. Zwick im Campus-Verlag. „Als ob wir dagegen wären, die Sozialhilfe aufzustocken“, verteidigen sich die Sozialwissenschaftlerinnen Petra Buhr und Monika Ludwig, „wir zeigen doch nur, daß die Leute fähiger sind, mit Sozialhilfe umzugehen, als gedacht, und daß es weit weniger LangzeitbezieherInnen gibt, als erwartet“.
Die ForscherInnen haben die Lebensverläufe von 586 BremerInnen weiterverfolgt, die 1983 einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt hatten. Leitfrage: Findet überhaupt jemand wieder heraus aus der Sozialhilfe? Überraschendes Ergebnis: Es ist die Mehrheit.
Überraschend außerdem: Längst nicht alle empfinden die Sozi als Diskriminierung. „Ich hatte angenommen, daß die Leute sehr frustriert sein müssen“, erzählt Petra Buhr. Ihr Schlüsselerlebnis war die Begegnung mit Elvira G. Die ist von ihrem alkoholkranken Mann nach der Geburt des zweiten Kindes verlassen worden. Sie beantragte Sozialhilfe. Endlich ein eigenes Konto, eigenes Geld! „Ich fühlte mich auf eine Art ziemlich reich. Zumindest abgesichert und so in so eine Selbständigkeit entlassen“, sagt Elvira G. Sie beginnt eine Ausbildung.
Resümee der SozialforscherInnen: Entgegen dem Vorurteil führe die Sozialhilfe durchaus nicht zwangsläufig in eine Abwärts- und Abhängigkeitsspirale, sondern könne Handlungsmöglichkeiten auch steigern. Das ist eine Verharmlosung der Situation von rund 40.000 Bremer SozialhilfeempfängerInnen, wirft man den beiden Forscherinnen vor. Nein, sagen Petra Buhr und Monika Ludwig, „wir zeigen ein differenziertes Bild – das sieht nach Verharmlosung aus, ist aber eine Entdramatisierung“. Die These von dem auf Dauer ausgeschlossenen Drittel der Gesellschaft stimme eben nicht: Nur 14 Prozent der AntragstellerInnen von 1983 bezogen im Schnitt fünf Jahre Sozialhilfe. Der größte Teil, nämlich 57 Prozent, brauchte Sozialhilfe nur für rund vier Monate zur Überbrückung einer Notlage. Dazu kommen noch 24 Prozent MehrfachüberbrückerInnen und die PendlerInnen zwischen Arbeit, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe.
Mag ja sein, daß von den AntragstellerInnen von 1983 nur 14 Prozent dauerhaft Sozialhilfe beziehen, sagt der Bremer Armutsforscher Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung, doch die aus jedem Jahrgang „übrig“ gebliebenen LangzeitbezieherInnen summierten sich und machten mittlerweile an die 50 Prozent der heutigen Bremer SozialhilfeempfängerInnen aus. Die Daten des Sonderforschungsbereiches könnten also verdammt mißgedeutet werden. Bislang allerdings habe die „rechte“ Ecke die Ergebnisse noch nicht aufgegriffen und so interpretiert, daß es mit der Armut doch gar nicht so schlimm sei, sagt Monika Ludwig.
Sozialhilfe ist nicht für alle so deprimierend wie oft behauptet wird, dennoch ist sie reformbedürftig, das ist das Fazit der beiden. Es beginnt schon bei der Frage: Wie informiert sind die MitarbeiterInnen des Sozialamts! Die wüßten manchmal nicht einmal die Adressen von Selbsthilfe- und Alleinerziehendengruppen. Manche Mutter würde noch nicht mal erfahren, daß sie für ihr Kind auch einen Schulranzen beantragen kann.
Vor allem ärgert die Sozialforscherinnen, daß die „wirklichen Problemfälle“, rund zehn Prozent der Befragten, völlig hintenrunterfallen. Volker B. zum Beispiel, durch einen Unfall aus der Bahn geworfen und seitdem immer nur kurzfristig in Jobs. Die Arbeitslosenhilfe reicht nicht zum Leben. So pendelt er zwischen Sozial- und Arbeitsamt, niemand fühlt sich richtig zuständig. Eine BSHG-19-Stelle und damit eine Perspektive kriegt er nicht, weil er ja noch Arbeitslosengeld bezieht. Volker B. erlebt seine Situation tatsächlich als ausweglos und die Sozialhilfe als Abwärtsrutsche. Kein Einzelfall, würde der Armutsforscher Busch-Geertsema sagen.
Nicht gerade ein Einzelfall, aber auch nicht die Mehrheit, setzen n Monika Ludwig und Petra Buhr dagegen. cis
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen