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Kein böser Blick

Gemein! Alle hacken auf Madonna rum. „Bedtime Stories“, die aktuelle Platte, ist denn auch ein Werk der Einkehr. Aber bereut wird nichts!  ■ Von Thomas Groß

Meine Güte, Madonna – da reißt sich keiner mehr drum, da haben sich schon zu viele dran versucht. Allein die interaktive taz-CD mit ihren ultraschnellen Zugriffsmöglichkeiten auf alles seit Jahren im Haus Ersonnene spuckt eine lange Liste von Interpretatoren und Texten aus: Heiteres, Abgebrühtes, Besinnliches, auch Wackeres, theoretisch Durchdringendes (manch eines kommt einem ziemlich bekannt vor). In jedem Fall eigenartige, beileibe nicht nur hier zu findende Hinterlassenschaften einer buchstäblichen Versuchung: Mit Madonna war jeder mal im Text.

Klar ist nach all diesen Exzessen immerhin, daß Madonna Louise Veronica Ciccone viel für die Befreiung der Frau getan hat. Damals, in den dunklen Achtzigern, ließ sie sich kein X für ein U vormachen. Sie sprach von Sex. Sie machte Bodybuilding. Sie wechselte Rollen und Frisur so oft wie ihre Liebhaber – immer mächtige Männer des Showbusiness. Sie begründete ihr eigenes Madonna-Imperium. Auch machte sie viel in Filmen mit, die leider meist nicht so gut wegkamen: 80 Prozent Totalverriß. Trotzdem brach sie immer wieder Tabus, „schockte“, bis irgendwann alle von der totalen Befreiung die Nase voll hatten und Madonna immer häufiger totgesagt wurde – zuletzt von Julie Burchill, die die berühmte spitzige Miederware nach Entwürfen von Jean-Paul Gaultier dafür verantwortlich macht. Brachte also ihr Hüfthalter sie um?

Aber es gibt sie ja noch, das ist das erneut Bedenkliche. Gleich drei neue Items – neben der gerade erschienenen CD zwei Bildbände aus dem Hause Schirmer/Mosel – fordern die madonnamüde Exegetenschar heraus. Und fast will es so scheinen, als sei nicht, wie ein beliebter Topos der Madonnalogie es will, offensives Sex-Posing ihr größter Tabubruch, sondern die pure Weigerung, von der Bildfläche zu verschwinden. Alle paar Jahre, mindestens aber jede Dekade, so will es der große Gott des Pop nun mal, muß der Ramsch raus, damit das Spiel mit neuen Figuren von vorne losgehen kann.

Und ohnehin, so weit waren wir schon, gibt es mehrere dedicated followers des Erbes. Das Supermodel Naomi Campbell, die kleine Björk, die vielbesprochene Liz Phair, die laute Reserve Courtney Love, selbst Simone von MTV – alle machen sie Platten, einige sogar Bücher. „Damit beginnt das Rennen um das neue ,Gesicht des Jahres‘“, heißt es im Klappentext von Campbells Roman „Swan“, Untertitel „Ein mörderischer Job“: „Fünf sehr unterschiedliche Mädchen kämpfen darum, das nächste Swan-Girl zu werden: eine adlige Britin, eine kalifornische Blondine, eine rothaarige Londonerin, eine kubanische Emigrantin und eine langbeinige afrokubanische Schönheit“.

Schwanengesang. Madonnas Botschaft – get rich, be sexy! – ist angekommen, die Credits sparen sich die meisten. Wer sagt denn, daß der Postfeminismus eine Zeit der Dankbarkeit zu sein hat? Madonna war ja auch nie so eine.

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„Madonna Megastar“ jedenfalls wird kein Psycho-Baby von heute sich in den Schrank stellen. Die „Bilderflut von atemberaubender visueller Schönheit“ (Verlagswerbung) ist eher für zu Geld gekommene Nostalgiker – ein leicht trauriges Dokument eingerannter Türen und rundum gewonnener Kämpfe: Madonna als Material Girl, Monroe-Plagiat, Fassbinder- Heroine, als Verführerin im Nouvelle-Vague-Stil, Madonna in Ketten und mit Spitzendessous, schließlich als prominente Stripperin auf den Filmfestspielen zu Cannes – die gute alte Mutter Teresa der Libertinage eben, als die wir sie alle so gern hatten.

Auch „The Girlie Show“, das großformatige Folio zur gleichnamigen letzten Welttournee, ist bloß ein wenig ergiebiges Sekundärprodukt des Madonna-Merchandising: schöne, nackte Asiatinnen und Muskeltänzer in akrobatischen Posen unter der Zirkuskuppel, während die Chefin sich unablässig umziehen muß und etwas angestrengt mit der Peitsche wedelt.

Man glaubt sofort, was sie Norman Mailer für den Playboy erzählte, einem Mailer, der sich, ganz Gentleman alter Schule, in einem beispiellosen Akt der Madonna- Soli an ihre Seite stellte: „Die Verantwortung dafür zu tragen, daß so viele Menschen zwei Stunden lang gut unterhalten sind, das ist strapaziös und beängstigend. Und hinterher gehst du in dein Hotelzimmer, aber du kannst nicht ausgehen, weil du so berühmt bist, daß alle hinter dir herlaufen und du nur in Begleitung von 20 Leibwächtern raus könntest, also sitzt du in deinem Hotelzimmer herum, während alle anderen sich ihrer Anonymität erfreuen ... Obendrein haben sie mich noch benutzt, um jemanden ins Bett zu kriegen – auf die Tour: ,Ich arbeite mit Madonna‘“.

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Also doch die alte Geschichte: Licht und Schatten, Tragik des Ruhms, Tränen auf Chiffonkissen, der Preis, den du zahlst – zumal als Frau? Die neue CD „Bedtime Stories“ jedenfalls, das einzige wirklich aktuelle Statement Madonnas, ist ein Werk der Einkehr. „Don't stop – keep movin', keep groovin'“, singt sie, aber es klingt schon ein bißchen nach Durchhalteparolen, während vorne der Rhythmus stampft und im Hintergrund einige Dancefloor-Errungenschaften herumlungern; sehr neu sind sie nicht, aber im bonbonfarbenen Licht der ganz großen Produktion wirken sie wie frisch aufgebürstet, sehr plüschig, die meisten Stücke sind auch Balladen. Madonna selbst trägt jetzt Kajal um die Augen: gegen den bösen Blick.

Tief wird in die Kiste des Hollywood-geschulten Rührstücks gegriffen. „Take a Bow“ – ganz großer Tearjerker, „Inside of me“ – supergefühliger Soft-Soul mit gesampleten Saxophonen; das Titelstück, eine ganz erstaunliche Nummer aus der Feder von Björk, vielleicht eine Art Femmage der Jüngeren, featuret eine Madonna, der die Wörter wie modrige Pilze im Mund zerfallen („Lost their meaning, don't function anymore ...“) und die sich darüber ins Unbewußte zurückwünscht: „Traveling, traveling“ – die Stücke fließen ineinander über, choreographieren sich zu einem tiefverträumten Lexicon of Love, bei dem unter „S“ ziemlich viel los ist. Es steht aber hier weniger für „Sex“ oder „Sadomaso“ als für die drei neuen großen Losungen von Madonna im Herbst 94: Secret, Sanctuary, Survival.

„Bedtime Stories“ – das ist der Einschnitt – ist die erste selbstreflexive Madonna-Platte: „Did I say something wrong? Oops, I didn't know I couldn't talk about sex! Did I stay too long? Oops, I didn't know I couldn't speak my mind!“ – ein Call-&-Response-Schema, das natürlich dem christlichen Zwiegespräch mit dem Zweifel nachgebildet ist. Wie ein minderer Geist ist er eingedrungen ins Boudoir der großen Kontrolle über Welt, Geld und Körper, hat den Faktor Zeit mit sich gebracht und allerhand häßliche Halbgötter wie Neid, Kleinmut und Eifersucht. Madonna weiß ein Lied davon zu singen. Es klingt wie „Christ, you know it ain't easy“, Disco-Version.

Und trotzdem funktionieren diese Gutenachtgeschichten nicht wie ein öffentlicher Beichtstuhl. Denn Reue findet nicht statt – nicht in letzter Instanz, nicht in Gedanken, Worten und Werken. Und deshalb ist Madonna immer noch eine kleinere Heroine: Statt sich als alternde Diva der Trunksucht zu ergeben oder tablettensüchtig zu werden, hat sich hier jemand in Gottes Namen ein kleines Traumkissen gewoben. Es besteht zu etwa 98 Prozent aus Synthetik, ist hochsaugfähig, garantiert staubabweisend und kann nur eines nicht: den State Of The Art von Popmusik im Jahre 1994 definieren. Aber das wäre nun auch wirklich zuviel verlangt.

Madonnna: „Bedtime Stories“ (WEA)

Die beiden Bildbände sind bei Schirmer/Mosel erschienen, je 49,80 DM.

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