: Im Land der Kioske
■ Polen – das unbekannte Nachbarland. Viele Vorurteile stimmen nicht, und Radreisende haben es eigentlich nur mit der Eisenbahn schwer.
„Nach Polen? Um Gottes willen“, sagt der Mann am Gepäckschalter der Deutschen Bundesbahn, als er die Fahrräder in Empfang nimmt, „ob Sie die überhaupt wiedersehen!“ Ein anderer Reisender rät beflissen: „Bloß nicht auf die Russenmärkte gehen, da haben sie mir mein ganzes Geld geklaut.“ Das geringste sind noch die Warnungen vor dem „fetten Essen“, vor teuren und wenig sauberen Hotels. Das kann ja heiter werden, schließlich haben wir uns drei Wochen Polen per Rad in den Kopf gesetzt, von Danzig über Masuren zum Urwald bei Bialystok nahe der weißrussischen Grenze. Doch es kommt anders: Wie erhofft, stehen die Räder nach drei Tagen in Danzig – umringt von Frachtarbeitern, die interessiert mit den Fingern den Leitungen der Gangschaltung nachfahren.
„Private Rooms?“ Am Ausgang des Danziger Bahnhofs paßt eine 60jährige die Reisenden ab. Pani (Frau) Zofia hat eine Wohnung. Mit Küche, Bad und einem Zimmer. Sie schläft in der Küche (7 Quadratmeter). Ihre Schwester, angeblich nur heute zu Besuch, schläft auch am nächsten Abend auf dem Küchenfußboden. Die Fahrräder kommen auf den Balkon.
Pani Zofia verkauft in einem Kiosk Fleisch. Aber wer leistet sich heute noch Fleisch! Der Staat habe die Löhne seit der Systemänderung um 30 Prozent gekürzt. Selbst die einst privilegierten ArbeiterInnen der Schwerindustrie verdienen nur noch um die 350 Mark. Für eine Familie reicht das nicht. Pani Zofia schimpft auf Walesa, den Hund, der das Volk verraten habe an die Kommunisten, die hätten wieder die Fäden in der Hand.
Eine Verschwörungstheorie pflegt auch der edel befrackte Journalist in der Danziger Straßenbahn, der sich als Nationalist bezeichnet: Die Juden, sagt er laut in den vollen Waggon, die hätten das Land unterwandert. Dabei weiß er genau, daß heute gerade noch 5.000 Juden und Jüdinnen in Polen leben. Drei Millionen wurden ermordet.
40 Kilometer weiter östlich, in einer Kneipe an der Ostsee, umgeben von Campingplätzen und der KZ-Gedenkstätte Stutthof, zapft die Jurastudentin Milka Bier. Milka schimpft sogar auf den Papst. Seit 1992 ist die Abtreibung in Polen verboten. In den Zeitungen finden sich jetzt Anzeigen wie diese: „3-Tages-Trip nach Moskau, 100 Dollar.“
Radreisende profitieren von der neuen wirtschaftlichen Situation – denn viele Menschen versuchen, im Kleinhandel Fuß zu fassen. Überall sieht man Kioske – voll Radieschen, Deos und Zigaretten. Wegen der harten Konkurrenz haben sie lange geöffnet. Die Proviantfrage ist also kein Problem. Eigentlich auch nicht die Übernachtungsfrage: Hotels gibt's auf dem Land zwar nur selten, dafür fast immer irgendwo einen Campingplatz mit einfach eingerichteten Holzhäuschen, eine staatliche Wandererherberge (PTTK), wo man heute nicht mehr gruppenweise untergebracht wird, oder auch mal das Pilgererhaus eines einsam gelegenen Dominikanerklosters. Und jeder sieht ein, daß die Fahrräder auch mit rein müssen.
Wer allerdings abends, nach einer vielleicht nur 50 Kilometer langen, aber verregneten Tour, essen gehen will, kann Pech haben. Restaurants mit Abendöffnung gibt es nicht viele. Die PolInnen laden sich lieber gegenseitig ein. Gut, einen Kocher dabeizuhaben – bei den nur leicht hügeligen Radstrecken in Nordpolen fällt er kaum ins Gewicht. Ein paar Flaschen mildes Bier der Volksmarke „EB“, dazu Nudeln, Gartentomaten und Waldpilze – so kommt man über die Runden. Waldpilze gibt es zum Beispiel auf den „Russenmärkten“ zu kaufen. Ähnlich wie die PolInnen in Deutschland verkaufen die RussInnen in Polen ihre Habseligkeiten: einzelne Gabeln, gebrauchte Badeenten, abgeschabte Türklinken und guterhaltene Seile ... Für den Hunger tagsüber empfehlen sich die staatlichen Milchbars, Bar Mleczny, hier gibt es noch all die köstlichen Spezialitäten wie Piroggen, das Krautgulasch Bigos, die Rotebeetesuppe Barszcz...
Und falls Sie abends doch mal ein geöffnetes Restaurant finden: Vergessen Sie bloß nicht, die Jacke abzugeben, sonst rennt Ihnen der Garderobier, meist ein alter Mann, bis an den Tisch hinterher. Er arbeitet nämlich auf eigene Rechnung. Eine Tradition auch noch immer, daß in den Doppelzimmern der Herbergen die Betten hintereinander statt nebeneinander stehen – auch wenn kein Kruzifix an der Wand hängt.
Tradition aus purer Not dagegen sind die Pferde auf den Äckern – Polen hat mit über einer Million Pferden den größten Pferdebestand in Europa. Dem Staat waren die widerspenstigen Bauern immer ein Dorn im Auge – gerade mal ein Fünftel der Anbaufläche ist kollektiviert, so wenig wie in keinem anderen sozialistischen Land. Dafür bekamen die Bauern weder Anleihen noch Hilfe bei der Mechanisierung ihrer Höfe. Betonnutzbauten der Kollektive sieht man also selten, umso mehr winzige Gehöfte mit Apfelbäumen, Kindern im Hof und Truthähnen auf dem Gartenzaun. Vorsicht vor den Hühnern auf der Straße! Einzig die Gänse werden eingesperrt – sie sind fast alle für den Export bestimmt.
Reisende schwärmen oft von der weiten Landschaft Nordpolens. Ihre Fotos aber überzeugen kaum. Die polnische Landschaft läßt sich nur schwer fotografieren, ihre Schönheit erschließt sich sozusagen erst im Vorbeiradeln: flache Wellen – die letzten Ausläufer der skandinavischen Eiszeitmoränen, dazwischen Alleen, manchmal ein Storch, viele Brachen, Buschhügel – die Flurbereinigungsmanie hat hier nicht zugeschlagen. Alle fünzig Kilometer wechselt die Landschaft: die masurischen Seen breiten sich aus, dann einer der letzten europäische Urwald bei Bialystok, der steppenähnliche weißrussische Landrücken – spätestens hier meint man, kilometerweit hören zu können.
Wer nicht gerade in den polnischen Sommerferien (Juli/August) reist, hat sogar die Masurische Seenplatte weitgehend für sich. Doch trotz der optischen Idylle: viele Seen sind verschmutzt. Welche Kleinstadt kann sich schon eine Kläranlage leisten. Im Ruderboot lassen sich die Seen trotzdem genießen. Köstlichste Erholung: in mehreren Tagesetappen die Krutynia entlangpaddeln, ein glasklares Flüßchen, kaum einen Meter tief. Hier kann sich die Radlersitzfläche auch von so mancher Hoppelstrecke erholen – solange man sich an die im Führer vorgeschlagenen Routen hält, bekommt man immerhin keine reinen Pflastersteinstraßen zu spüren.
Wie ein Schlag trifft nach solcher Idylle der Anblick so mancher Stadt in Nordpolen. Elblag zum Beispiel, 120.000-Einwohnerstadt im Weichseldelta: erst kilometerweit Plattenbauten, in der Stadtmitte dann eine verkrautete Wiese, spärlich umrundet von rekonstruierten und postmodernen Giebelhäusern. Wenige Meter dahinter: Ruinen. Die Stadt wurde im Mittelalter auch von Bremer Kaufleuten aufgebaut und 1945 von den Deutschen zu neun Zehnteln zerstört.
Sorgfältig und mit viel Geld baute der ponische Staat die Altstädte von Danzig und Warschau wieder auf, die kleineren Städte mußten selbst zusehen. Nur Krakau hat noch seine echten alten Häuser – die rote Armee marschierte gerade noch rechtzeitig ein.
Krakau ist an TouristInnen und an ihre Wünsche nach Postkarten und Kutschfahrten gewöhnt – nicht aber an TouristInnen mit Fahrrädern. Die dann auch noch nach Deutschland zurückgeschickt werden sollen. „Die müssen doch erst durch den Zoll“, ist der Angestellten hinterm dicken Glasschalter endlich zu entlocken. Der Zoll aber liegt am Stadtrand und hat nur bis elf Uhr geöffnet. Jetzt ist es schon halb Zwölf.
Drei Wochen nach Reiseende und nach einer Suchaktion der Deutschen Bundesbahn treffen die Räder endlich wieder in Bemen ein. Wenn auch ohne Klingel und Ständer. Haben wir doch zu früh gelacht über die beiden Deutschen, die ihre Räder für die Zugfahrt zerlegten und in Reisetaschen packten, um sie immer am Leib mitzuführen. Zu früh gelacht auch über die übrigbehaltenen 200 Mark in Zloty, die wir vergaßen, in Polen zurückzutauschen. „Solch exotische Währungen führen wir hier nicht“, beschied die Bremer Bankangestellte.
Christine Holch
Als Radreiseführer zu empfehlen ist zum Beispiel „Polen per Rad. Band 1: Nordpolen“ von Herbert Lindenberg, Verlag Wolfgang Kettler, Berlin. Darin sind die Touren kategorisiert nach Verkehrsdichte, landschaftlicher Schönheit, Schlaglochhäufigkeit und Anstrengung. Dazu Radfachwörter auf polnisch und die Adressen der wenigen Radwerkstätten. Das Unterkunftsverzeichnis ist recht zuverlässig. Für das Problem „Rad per Bahn nach Polen“ wende man sich an den ADFC in Bremen.
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