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Zweisprachige Klassen in Gefahr

Eltern und LehrerInnen beklagen die Austrocknung des muttersprachlichen Unterrichts durch den Schulsenator / Grüne fordern Ausweitung auf weitere Klassen und andere Sprachen  ■ Von Ralph Bollmann

„Dadurch hat man viele Kinder vor der Sonderschule retten können“, preist Sevim Aydin die Erfolge der zweisprachigen Erziehung. Die Fachbereichsleiterin für türkische Sprache im Türkischen Elternverein unterrichtet an der Spreewald-Grundschule in Schöneberg, wo schon 1983 mit der zweisprachigen Alphabetisierung türkischer SchülerInnen begonnen wurde – lange bevor die rot-grüne Senatskoalition im Schuljahr 1988/89 einen Schulversuch startete, an dem sich 17 Schulen mit rund 1.500 Kindern und 100 LehrerInnen beteiligten.

Ulrike Harnisch, ebenfalls an der Spreewald-Grundschule, erläutert die Zielsetzung: Noch immer hätten viele SchulanfängerInnen türkischer Herkunft bessere Türkisch- als Deutschkenntnisse. Kinder, die in beiden Sprachen leben, müßten jedoch als Grundlage für ihre kognitive Entwicklung auch beide Idiome gleichermaßen beherrschen.

Etwa die Hälfte des Unterrichts wird wie in anderen Schulen auf deutsch gehalten. Die andere Hälfte findet als „Kooperationsunterricht“ statt, der sich wiederum in einen jeweils einsprachigen Gruppenunterricht und in Schulstunden aufteilt, in denen gemeinsam multikulturelle Themen behandelt werden. Dabei sprechen die SchülerInnen wahlweise deutsch oder türkisch. So werde das Sprachbewußtsein durch die frühe Konfrontation mit einer anderen Sprache gefördert. Auch das Verhältnis zwischen deutschen und türkischen Kindern sei erheblich besser als in Regelklassen mit durchgängigem Unterricht in deutscher Sprache.

Seit dem Ende der Versuchsphase 1993 wird das Modell als Regelangebot fortgeführt. Hat sich Schulsenator Jürgen Klemann (CDU) damit zum progressiven Bildungspolitiker entwickelt? Mitnichten, meint seine Amtsvorgängerin Sybille Volkholz, bildungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus. Vielmehr fürchtet sie, daß Klemann mit der zweisprachigen Erziehung „eines der Herzstücke von Rot-Grün“ allmählich austrocknet. So sei die entsprechende Arbeitsgruppe beim Schulsenator aufgelöst worden.

Volkholz fordert die rechtliche Absicherung des Modells im Schulgesetz. Außerdem müsse es auf weitere Sprachen ausgedehnt werden. Derzeit findet anderer muttersprachlicher Unterricht allenfalls in nachmittäglichen Arbeitsgemeinschaften statt, die für die SchülerInnen eine zusätzliche Belastung darstellen. Schließlich solle das Angebot zur Bedarfsdeckung über die 17 Versuchsschulen hinaus ausgeweitet werden. Eine deutsch-türkische Europaschule könne keinen Ersatz bieten, weil nach deren Konzept eine gleichgroße Anzahl von deutschen SchülerInnen vonnöten wäre, die Türkisch lernen möchten. „Davon darf das Recht auf muttersprachlichen Unterricht aber nicht abhängig gemacht werden“, so Grünen-Politikerin Volkholz.

Klemanns Sprecher Andreas Moegelin kann dagegen die „Austrocknung“ der zweisprachigen Erziehung „gar nicht sehen“. Ganz im Gegenteil zeige die Übernahme als Regelangebot, daß sich der Schulversuch bewährt habe. Die Wissenschaftlerstellen seien nur deshalb weggefallen, weil „ein Regelangebot nicht mehr die wissenschaftliche Begleitung braucht wie ein Schulversuch“. Wenn die Bezirke Kreuzberg und Schöneberg die Begleitung „künstlich aufrechterhalten“, fehlten die Stellen anderswo, meint Moegelin.

Auch gegen eine Ausweitung sträube sich der Senator nicht prinzipiell, doch es fehle die Nachfrage: „Ein weiteres Interesse an anderen Schulen besteht derzeit nicht.“ Wer die geplante Ausweitung des Europaschulkonzepts damit in Verbindung bringe, vergleiche Äpfel mit Birnen, weil es sich um ein qualitativ anderes Angebot handele.

Monika Nehr dagegen, die den Schulversuch an der Kreuzberger Nürtingen-Grundschule wissenschaftlich begleitete, beklagt, daß für die dritte und vierte Klasse noch nicht genügend Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stünden. Der Versuch war zunächst in der ersten und zweiten Klasse begonnen worden. Zwar habe man mit beträchtlichem Aufwand eine Unterrichtsfibel erarbeitet, doch sei die Finanzierung der nächsten Auflage ungeklärt. Zudem müsse der Unterricht auf die fünfte und sechste Klasse ausgedehnt werden, wie es auch der Europarat zur Bildungspolitik fordere.

Die Geringschätzung für den zweisprachigen Unterricht kommt für Monika Nehr auch darin zum Ausdruck, daß die Noten für den türkischen Unterrichtsteil nicht im Zeugnis erscheinen. Der Senatsschulverwaltung wirft sie ein „Publikationsverbot“ vor. So sei die Veröffentlichung der Berichte über den Schulversuch zunächst aus finanziellen Gründen verweigert worde. Als die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aber anbot, die Druckkosten zu tragen, antwortete die Behörde lapidar, „daß die Beantwortung wegen der Vielzahl der Geschäftsvorfälle leider nicht kurzfristig möglich ist.“

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