Das Kämmerlein verlassen

Auf der „1st Music Poetry Force“ im Tacheles  ■ Von Thomas Winkler

Festivals fordern Konzepte. Rezipienten klagen sie ein, Organisatoren fühlen sich dazu genötigt, das Publikum hält sich an der programmatischen Klammer fest. Auch das „1st Music Poetry Force“, das seit gestern bis zum 13.11. im Tacheles stattfindet, plustert sich auf, spreizt die diskursiven Federn, findet Worte wie „die traditionellen Grenzen zwischen Wirklichkeit und Denken aufzulösen“, um eine „synergetische Einheit“ zu erreichen, in der dann die „Fusion von Menschen, Ideen und Kreativität“ stattfinden soll. Wie so oft liegen die Dinge dann doch einfacher gestrickt: „Wir wollen die Dichtung aus dem stillen Kämmerlein bringen“, erzählt Karina Mertin, Mitorganisatorin des Festivals, „und den Leuten näherbringen durch andere Herangehensweisen an Poesie, durch verschiedene Medien und Ausdrucksformen.“

Dazu hat man sich eine illustre Schar geladen. Von William S. Burroughs, der am gestrigen Eröffnungsabend hoffentlich über Telefon in den Theatersaal zugeschaltet war, über Robert Görl und Gabi Delgado, die beiden Ex- DAFler und berufsmäßigen Pioniere, die allerdings auch bei diesem Festival getrennte Wege gehen, bis zu Christian Ide Hintze, jenem – darf man sagen? – Beat-Poeten oder eher rapping Professor, der sich in seine „Schule für Dichtung“ in Wien als Gastdozent auch schon mal Blixa Bargeld einlädt. Dieser einstürzende Neubau, der die Texte für die Müllexperimente seiner Kapelle gerne in ethymologischen Wörterbüchern findet, darf natürlich auch nicht fehlen, wenn es um andere, vielleicht sogar neue Herangehens- und Vermittlungsweisen an und für Sprache geht.

„Wir haben einfach versucht, Leute zusammenzubringen, die ähnliche Arbeitsweisen haben“, meint Mertin, und so finden sich denn am 1. und 2. November fast zwanzig Menschen gemeinsam auf der Bühne des Theatersaals, um dort unter dem Titel „Die Vollstreckung kostbarer Erinnerungen“ dem Kämmerlein die Dichtung zu entreißen. Und das wörtlicher als man meinen könnte, denn im Gegensatz zur Verlautbarung in der zitty, daß der Text aus den Notizbüchern von Bargeld und Heiner Müller stamme, sind die zu vollstreckenden Erinnerungen vielmehr die eines ideellen Gesamtmenschen. Bargeld hat dazu Fragebögen verteilt, in denen er Mitmenschen bat, bestimmte Erinnerungen, Erlebnisse oder Gefühle je nach Laune detailliert oder kurz niederzuschreiben. Aus diesem Material formte oder schnitt er den Text, den er zur Musik von Zbigniew Karkowski lesen oder interpretieren wird. Dazu – neben reichlich Musikern – das gesamtkunstwerkliche Equipment mit Videos und dem restlichen Schnickschnack. Karkowski wehrt sich allerdings vehement gegen den von Mertin ins Spiel gebrachten Begriff „soundsculpture“: „Das ist Bullshit. Solche Begriffe sind überflüssig. Mir genügt es, wenn es einfach gut ist, wenn es faszinierend ist.“ Heiner Müller kommt übrigens nur insofern ins Spiel, als er neben Blixa seine Stimme leihen sollte. Der Regisseur ist aber leider erkrankt und wird mit Sicherheit nicht auftreten können.

Künstler-Königreich Elgaland-Vargaland

Es ist schwer, eine Linie durch das gesamte Programm zu finden, aber vielleicht weiß auch nur ich nicht, was der Regenvogel Katharina Franck, der bisher eher durch recht dümmliche Songtexte glänzte, heute abend zwischen Christian Ide Hintze und dem Berliner Jörg Janzer zu suchen hat. Oder wo die Dichtung bleibt beim abschließenden Techno-Abend mit Tanith und DJ Rok. Doch ansonsten findet sich immer eine Verbindung, ob nun bei Fleischmann, Sandow oder Four Star Five, bei Gabi Delgado oder Atari Teenage Riot, allesamt Bands und Musiker, denen das Wort wichtig ist.

Wie die Fäden verlaufen, wird dann vielleicht erst richtig am 9.11. klar, wenn das Königreich Elgaland-Vargaland seine erste diplomatische Vertretung in der BRD eröffnet. Dieser noch junge Staat wurde am 14. März 92 von zwei schwedischen Künstlern gegründet und hat prompt sämtliche Grenzstreifen dieser Welt und alle internationalen Gewässer annektiert. Man druckt eigenes Geld (Taler) und Pässe, bringt Briefmarken heraus, singt eine Nationalhymne und hat die Aufnahme in die UN beantragt. Botschaften gibt es in mehr als 20 Ländern. Hier kann sich dann die internationale Gemeinschaft der Kreativen das Zugehörigkeitspapierchen beschaffen. Paß hochhalten und: „Guck mal, ich bin Künstler!“

Finanzieren muß das Tacheles zum allergrößten Teil selbst, nur der Kultursenat hatte eine bescheidene Spritze übrig. Und der Auftritt von John Zorn, der extra eingeflogen wird, liegt in der Verantwortung von Downtown. Mertin hofft, daß das erste „Music Poetry Force“ nicht das letzte sein wird. In den kommenden Jahren sollen dann aber an nur drei oder vier Tagen die Mitwirkenden ein Thema mit auf den Weg bekommen. Vielleicht werden Workshops das Programm ergänzen, und dann wird die nicht unterzukriegende Frage nach dem Konzept bestimmt noch einmal genauer durchdiskutiert.

Bis zum 13.11. im Tacheles, Oranienburger Str. 54/56, Mitte.