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Religion und Politik in Bosnien

Gibt es in Bosnien eine Hinwendung zum Islam, oder ist dies serbische Propaganda?  ■ Von Erich Rathfelder

In der serbischen Presse ist der Feind schnell ausgemacht: Der Islam habe sein Schwert erhoben, um an den Grundfesten Europas zu rütteln. Tausende von radikalisierten Mudschaheddin überschwemmten Bosnien und riefen zum „Dschihad“, dem Heiligen Krieg, auf. Der islamische Fundamentalismus breite sich aus, wolle einen „grünen Gürtel“ von der Türkei über Bulgarien, Makedonien, Albanien und dem Kosovo bis nach Bosnien schaffen. Das „christliche Abendland“ sei in höchster Gefahr. Es müsse wieder einmal gerettet werden.

So oder so ähnlich wird seit Jahren in den in Belgrad erscheinenden Blättern argumentiert. Auch in Kroatien hat die staatlich gelenkte Presse je nach Bedarf von solchen Argumenten Gebrauch gemacht. Und selbst in Westeuropa taucht zunehmend die Angst vor den europäischen Muslimen in Bosnien auf. Selbst innerhalb der „deutschen Linken“ wird auf diese Weise Angst erzeugt, so zum Beispiel in der Zeitschrift konkret (Die islamische Karte, April 1994). Auch andere Gazetten stoßen in das gleiche Horn. So mag den Lesern ein Schaudern über den Rücken gelaufen sein, als sie im letzten Jahr erfahren mußten, daß auf bosnischer Seite „über 4.000 Mudschaheddin“ in den Krieg eingegriffen hätten (Focus, Spiegel). Und die Schreckensmeldungen über das islamische Regime im Iran, die wüsten Bilder von Mudschaheddin in Afghanistan sowie der Terror islamischer Fundamentalisten im heutigen Algerien scheinen Klischees auch gegenüber den europäischen Muslimen zu beflügeln.

In einem Punkt können alle Beobachter beruhigt sein. Im bosnischen Krieg gibt es lediglich 200 bis 300 Freiwillige aus islamischen Ländern – so geht es aus UNO- Quellen und Recherchen vor Ort hervor. Sicherlich wäre die Zahl der Mudschaheddin gestiegen, wenn das von der bosnischen Regierung kontrollierte Gebiet nicht völlig von gegnerischen Truppen eingeschlossen worden wäre.

Auch die anderen Armeen bedienten und bedienen sich Freiwilliger oder sogar Söldner. „Christliche“ Kämpfer haben schon im Krieg in Kroatien auf kroatischer und serbischer Seite gestritten (für Kroatien nach Schätzungen befragter Söldner anfänglich etwa 400 Engländer, 300 Franzosen, 200 Deutsche und Österreicher, weiterhin Polen, Ukrainer und andere, auf serbischer Seite etwa 500 Russen, 400 Rumänen und Ostukrainer). Die meisten von ihnen sind Abenteurer – ehemalige Fremdenlegionäre, Kriminelle –, viele sind erklärte Rechtsradikale, die mit den jeweiligen nationalistischen Bewegungen sympathisieren. In Bosnien wurden einige hundert der in Kroatien kämpfenden Söldner und Freiwilligen zunächst vom kroatischen Verteidigungsrat HVO übernommen. Seit der Bildung der bosnisch-kroatischen Föderation im Februar dieses Jahres wurden viele von ihnen jedoch wieder entlassen.

Auch die Truppen des bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić haben viele Freiwillige und Söldner aus dem kroatischen Krieg integriert. Sie werben angesichts des eigenen Personalmangels nach wie vor Ausländer, vor allem Russen und Rumänen, für ihre Verbände an. Es sind Söldner, die angesichts der Arbeitslosigkeit in ihren Heimatländern für ein geringes Salär ihr Leben riskieren.

Bei den „Mudschaheddin“ liegen die Motive anders: Sie sind in ihrer Mehrheit religiöse Fanatiker. Und als solche werden sie von weiten Teilen der bosnisch-muslimischen Gesellschaft mit Skepsis betrachtet. Denn die bosnischen Sunniten gehören nach eigenem Bekunden zum liberalen Flügel des Islam. Immer wieder betonen ihre religiösen Führer ihre europäische Identität. Die „europäische humanistische Philosophie ist einer der Grundpfeiler unserer Bildung“ sagte beispielsweise Mustafa Ceric, die höchste religiöse Autorität der bosnischen Muslime, im Sommer 1994 in einem Interview.

Wenngleich die Hilfe, die aus der islamischen Welt kommt, dankbar angenommen wird, soll von bosnisch-muslimischer Seite aus dieser kulturelle Unterschied nicht eingeebnet werden. Allerdings unternehmen die europäischen Staaten kaum etwas, um die bosnischen Muslime in ihrer Ausrichtung zu bestärken. Die Enttäuschung darüber könnte in Zukunft zu einer Umorientierung führen, Anzeichen dafür gibt es bereits. Doch noch wehrt sich der größte Teil der bosnischen Muslime gegen jegliche Vereinnahmung durch den islamischen Fundamentalismus. Als eine Gruppe von Mudschaheddin im Sommer 1993 in Zenica versuchte, händchenhaltende Paare zu „bestrafen“, kam es zu öffentlichen Protesten.

Die Beantwortung der Frage, welche Rolle die Religion im bosnischen Krieg spielt, wird durch den Hinweis auf die Freiwilligenverbände oder die Mudschaheddin eher erschwert. Und doch bleibt die Frage wichtig. Im bosnischen Krieg versuchten serbische Nationalisten von Beginn an, die Mitglieder der Gesellschaft, die sich weder durch die Sprache noch durch ethnisch sichtbare Merkmale unterscheiden, zu klassifizieren. Die Zugehörigkeit zu einer der Religionen konnte zum entscheidenden Kriterium für Leben oder Tod werden. Verbürgt sind die Berichte, nach denen serbische Freischärler Kriegsgefangene Männer danach untersuchten, ob sie beschnitten waren oder nicht.

Nach Jahrzehnten der „Durchmischung“ und der Förderung laizistischer Leitbilder während der kommunistischen Zeit ist die Religionszugehörigkeit heute wieder, wie schon während des Zweiten Weltkrieges, zu einem Merkmal für die Abgrenzung und die Selbstdefinition geworden. Dies hat zunächst nichts mit Religiosität zu tun, sondern vielmehr mit der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Nation. Nach bosnischen Quellen galten vor dem Krieg fünf bis zehn Prozent der serbisch-orthodoxen oder muslimischen Bevölkerung als „religiös“, bei den Katholiken lag der Prozentsatz etwas höher. Heute wird, wer orthodox ist, als serbisch definiert, wer katholisch ist, als kroatisch.

Fällt den nominellen Anhängern christlicher Religionen diese Zuordnung aus verschiedenen Gründen, so der Existenz eines kroatischen oder serbischen „Mutterlandes“, leichter, haben die bosnischen Muslime damit Probleme. Obwohl sie Anfang der siebziger Jahre den Status der Nation im jugoslawischen Staat zugesprochen bekamen, hat sich bei ihnen der Nationenbegriff noch nicht völlig durchgesetzt. Die Muslime Bosniens definieren sich nach wie vor lieber als Bosnier oder als Bosniaken muslimischer Religion.

Unterstützt werden sie dabei von großen Teilen der zentral- und ostbosnischen Katholiken, die sich selbst als „Bosnier katholischer Religion“ und dann erst als Kroaten ansehen. Aber auch bosnische Orthodoxe versperren sich den nationalistisch motivierten eindeutigen Zuweisungen. In der serbisch besetzten Zone ist dies jedoch zur Zeit schwerlich zu artikulieren, in der von der bosnischen Regierung dominierten Region fällt dies manchen der dort lebenden fast 200.000 Orthodoxen leichter.

Diese Konstellation darf jedoch nicht dazu verleiten, die durch den Krieg bewußt herbeigeführten Gegensätze einzuebnen. In der serbisch besetzten Zone wurden mehr als 870 Moscheen und auch viele katholische Kirchen zerstört, während des kroatisch-muslimischen „Krieges im Kriege“ 1993/94 auf der kroatisch-westherzegowinischen Seite über 50 Moscheen und einige orthodoxe Kirchen. Die Zeugnisse der kulturellen Identität der anderen sollte und soll von diesen Extremisten weiterhin „ausgemerzt“ werden, nichts soll an die Vertriebenen mehr erinnern können. Die Religionszugehörigkeit wurde und wird von den Nationalisten als konstitutives Merkmal eines kulturellen Zusammenhanges begriffen, der mit allen Mitteln bekämpft wird.

Im von der bosnischen Regierung kontrollierten Gebiet hingegen wurden die katholischen, orthodoxen und jüdischen Kultstätten mit der Ausnahme eines katholischen Klosters bei Travnik nicht angetastet. Die muslimische Bevölkerung sieht traditionell die eigene Kultur als einen Träger einer eigenständigen bosnischen Identität an, die multireligiösen Charakter hat. Die bosnische Identität setzt also die Existenz der anderen Kulturen und Religionen voraus. Folgerichtig haben die Muslime trotz des Krieges und der Vernichtungsstrategie der Gegenseite die Kultstätten der anderen Religionen respektiert.

Der Fundamentalismus der „christlichen“ Seite erscheint in diesem Zusammenhange also stärker ausgeprägt als der vielbeschworene Fundamentalismus der Muslime. Aber letztlich benutzen die herrschenden Cliquen im serbisch besetzten Bosnien und in der kroatischen Westherzegowina die Religion lediglich als Schutzschild für ihre extremistische Politik, ohne tatsächlich vorbehaltlos von diesen Institutionen unterstützt zu werden. Selbst in der orthodoxen Kirche gibt es Widerstände gegen die Vereinnahmung durch die Extremisten, wenngleich der Traum von der Begründung eines Großserbiens gerade von der orthodoxen Kirche befördert wurde. So protestierte ein Teil des Klerus gegen die Politik der „ethnischen Säuberung“, andere Geistliche legten allerdings bei der Zerstörung von Moscheen selbst Hand an.

Schärfer fällt die Abgrenzung der katholischen Kirche zur Kriegspolitik der kroatischen Extremisten in der Westherzegowina aus. Nicht zuletzt dem Erzbischof von Sarajevo, Vinko Puljic, ist es zu verdanken, daß der Zagreber Kardinal Frantisek Kuharic im Mai 1993 den kroatischen Extremistenführer Mate Boban verwarnte. Daß der Papst Anfang September dieses Jahres nach Sarajevo und nicht in die Herzegowina fahren wollte, sollte als eine Ermunterung für die multireligiöse Identität Bosniens gewertet werden. Lediglich ein Teil des westherzegowinischen Klerus hat den Kurs der eigenen politischen Führung gutgeheißen.

In der muslimischen Bevölkerung hat sich unter dem Eindruck des Krieges ein Teil der Religion zugewandt. Die Erfahrungen des Eingeschlossenseins, der Hoffnungslosigkeit, des Hungers, der Kälte – im letzten bitteren Winter 1993/94 – und nicht zuletzt die unterlassene Hilfeleistung durch Europa, als viele Menschen in Sarajevo, Tuzla oder Zenica glaubten, den Frühling nicht mehr zu erleben, haben hierbei eine Rolle gespielt. Die religiöse Welle hat vor allem die Jugendlichen erfaßt. „Ich habe während der langen Abende den Koran und die Biographie Mohammeds studiert“, erklärte kürzlich ein Bekannter in Sarajevo, „ich kann bei bestem Willen nicht mehr religiös werden. Aber meine Tochter, die kann es schaffen.“

Die Moscheen sind wieder voll, viele Menschen haben sich die Einhaltung der religiösen Regeln wie rituelle Waschungen und regelmäßige Gebete angewöhnt. „Die Religion ist mir zum einzigen Halt geworden, nachdem der Westen uns verraten hat“, analysierte eine 17jährige Muslimin in Bihać ihre persönliche Hinwendung zur Religion. Und die muslimische Partei SDA nutzt diese Welle, um ihren eigenen Einfluß innerhalb der muslimischen Bevölkerung zu erweitern. So werden religiöse Würdenträger bei offiziellen Anlässen hofiert, über die Einbindung der Religion wird versucht, die durch den Krieg und die Verfolgung geweckte muslimische Identität in einen muslimischen Nationalismus zu transformieren.

Auch der restbosnische Staat tritt zunehmend als Hüter muslimischer Traditionen auf. In Zenica wurde schon im letzten Frühjahr der Ausschank von Alkohol in der Öffentlichkeit eingeschränkt, das muslimische Verbot, Schweinefleisch zu essen, vom Staat betont. Und islamische Hilfsorganisationen machen Druck, indem sie Hilfspakete bevorzugt an jene verteilen, die sich an die religiösen Regeln halten. Noch hat sich diese Tendenz jedoch nicht durchgesetzt. So warnen die Vertreter der bosnischen Identität, des multikulturellen und multireligiösen Bosniens, wie der Schriftsteller Dzevad Karahasan, davor, die bosnischen Muslime in Europa weiterhin undifferenziert mit extremistischen Fundamentalisten der arabischen Welt in einen Topf zu werfen. Gerade diese Sichtweise koppele „uns bosnische Muslime, uns Europäer, von Europa ab“.

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