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Die Nacht des Horrors Von Ralf Sotscheck

Das Grauen kommt um fünf. Um diese Zeit wird es in Irland dunkel. Erwachsene und Haustiere sollten das Haus dann nicht mehr verlassen, denn heute ist Halloween – „All Hallow's Eve“, der Abend vor Allerheiligen. Die Dunkelheit gehört den Monstern: Horden von Kindern, die sich gräßlich kostümieren und von der Nachbarschaft Geschenke erpressen. Vorbei sind die Zeiten, als sie sich mit Äpfeln und Nüssen, der traditionellen Totennahrung, zufriedengaben. Inzwischen muß es mindestens ein Schokoriegel, besser jedoch Bargeld sein. Wer sich weigert oder so tut, als sei niemand zu Hause, hat nichts zu lachen – ein nasser Sack auf dem Schornstein, luftleere Autoreifen oder ein Bombardement mit Eiern und Zuckerrüben gehören zu den harmloseren Strafen.

Auf den Straßen ist es freilich noch gefährlicher. In die riesigen Freudenfeuer, die zum Entsetzen der Feuerwehr regelmäßig außer Kontrolle geraten und ganze Wohnsiedlungen bedrohen, werfen die reizenden Kleinen häufig streunende Katzen und kleinere Hunde. Erwachsene, die sich nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße wagen, werden mit Feuerwerkskörpern vertrieben. Zwar ist deren Verkauf streng verboten, aber daran halten sich die Straßenhändlerinnen mit dem losesten Mundwerk Dublins nicht. In den Wochen vor Halloween tragen sie auffällig weite Röcke, unter denen sie Raketen, Knallfrösche und anderes Kriegsgerät verstecken.

Die Nacht des Horrors geht auf die Kelten zurück. Der 1. November hieß bei ihnen „Samhain“, das Ende des Sommers und der Beginn der dunklen Jahreszeit. Da der Sommer schon heute abend endet, der Winter jedoch erst morgen früh beginnt, liegt dazwischen Niemandsland. „Die normale Ordnung ist außer Kraft gesetzt“, schreibt der Keltologe Proinsias Mac Cana, „die Barrieren zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen sind vorübergehend beseitigt, die Sí – die Feenwelt – liegt offen, und alle Götter sowie die Geister der Toten bewegen sich frei unter den Menschen und mischen sich – machmal gewaltsam – in deren Angelegenheiten.“ Diese Rolle haben heutzutage die Kinder übernommen.

Es sind jedoch nicht nur die Toten, die nach keltischem Glauben in dieser Nacht aus dem Jenseits zurückkehren, sondern auch Feen, Elfen, Kobolde und Dämonen, die nichts Gutes im Schilde führen: Dreiköpfige Aasgeier, die jegliche Vegetation absterben lassen, der Dallachán, eine häßliche kopflose Erscheinung, oder der Púca, der gewöhnlich in der Gestalt eines Pferdes erscheint und den ahnungslosen Reiter in atemberaubender Geschwindigkeit durch das Land trägt. Nach Halloween darf man keine Brombeeren mehr essen, weil der Púca in jener Nacht auf die Beeren pinkelt. Diese Geschichte hat wie so viele Märchen einen wahren Kern: An den Brombeeren kann man sich den Magen verderben wenn sie Frost abbekommen haben – was um Halloween oft vorkommt.

Die Feen sind gefürchtet, weil sie gerne junge Knaben stehlen und statt dessen einen bösen Wechselbalg hinterlassen. In Dublin scheinen sie ganze Arbeit geleistet zu haben. Vielleicht könnte man die Feen dazu überreden, künftig Knaben und Mädchen zu stehlen und statt dessen einen Apfelkuchen oder eine Flasche Guinness zu hinterlassen.

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