: Haute Couture am Straßenrand
Benin an der Westküste Afrikas: Kein Urlaubsland, aber lohnendes Reiseziel ■ Von Claudia Ingenhoven
„Sie sind schön“, sagt plötzlich ein kleiner Junge neben mir. Weil ich nicht gleich reagiere, schiebt sein Freund nach: „Sie sind hübsch!“ Als auch das nichts bringt, überschlägt sich der erste: „Sie sind fotogen. Sie sind amüsant. Sie sind nett. Sie werden mir Geld geben für die evangelische Sammlung, und dafür wird Ihnen das neue Jahr viel Gutes verheißen.“ Die beiden haben ihr gestelztes Französisch auswendig gelernt. Eine Ausnahme. Die meisten kleinen Kinder sprechen eher Fon als Französisch. Sie rufen einfach „Jovoh, cadeau“, wenn sie Touristen sehen, „Weißer, schenk mir was!“. Sie freuen sich, wenn sie eine Münze bekommen, aber wenn nicht, lachen sie auch. „Jovoh, cadeau“, das heißt oft nichts anderes als: „Hallo, Weißer, wie geht's?“
Es gibt nur wenige Weiße in Benin. In der Hafenstadt Cotonou fallen einige Geschäftsleute und Entwicklungshelfer mit ihren Geländewagen auf. Ansonsten wird das Straßenbild vor allem durch Mopeds geprägt. Wer hier zu Geld gekommen ist, als kleiner Staatsdiener vielleicht, kauft ein Moped und vermietet es tageweise als Taxi. Ein Moped-Taxi, zu erkennen am gelben Kittel seines Fahrers, transportiert Mann, Frau, Kind und Möbel. Gleichzeitig. Für mich ein Himmelfahrtskommando. Noch eine Spur schlimmer als die völlig überladenen Buschtaxis, die über Land brettern.
Getankt wird am Straßenrand. Es sind meist Frauen, die neben benzingefüllten Literflaschen sitzen und auf Kunden warten. Ein Pappschild gibt den aktuellen Benzinpreis an. Die Preise aller anderen Waren und Dienstleistungen, die entlang der Straße angeboten werden, muß man aushandeln. Wer nicht handelt, ist als Kunde nicht ernst zu nehmen. „Was soll das, Weißer, warum diskutierst du nicht, war doch nur ein Vorschlag.“ Am Straßenrand stehen Nähmaschine und Arbeitsplatte des Schneiders. Oft kündet ein Drahtgestell mit einem farbenprächtigen Modell darauf von den Nähkünsten des Couturiers. Am Straßenrand flicht die Friseuse aus krausen Haaren geometrische Kunstwerke – ein handgemaltes Werbeplakat präsentiert ihre derzeitigen Trendfrisuren. Am Straßenrand werden kaputte Autoschläuche genäht, geklebt und geschweißt. Am Straßenrand werden Stoffe, Hühner und Horoskope verkauft. Wer als Händler dort keine Beachtung findet, muß sich ins Verkehrsgewühl von Cotonou begeben und seine Waren den im Stau Wartenden aufschwatzen: Taschentücher, Telefone, Transistorradios. Oft aus Nigeria oder Ghana geschmuggelt. Dort sind importierte Waren verbreiteter.
Wenn man die Stadt Richtung Norden verläßt, beruhigt sich der Verkehr. Das andere Benin beginnt.
Das Fischerdorf Ganvié wird im Reiseführer als Sehenswürdigkeit gepriesen. Es liegt inmitten einer Lagune, Häuser und Hütten sind auf Pfählen erbaut. Fortbewegen können sich die Bewohner nur im Einbaum. Sehenswert ist es allemal, wenn man nach halbstündiger Fahrt in einer Piroge in der Pfahlbautensiedlung ankommt, aber auch unangenehm, durch die engen Wasserstraßen gefahren zu werden und die Bewohner anzustaunen, die sich fernab von Elektrizität und Kanalisation auf dem Wasser eingerichtet haben.
Abomey, der zweite Ort, der um Touristen wirbt, ist dagegen einfach zu besuchen. Vorausgesetzt, man findet den Weg zum Palast des einst mächtigen Königreiches Dahomey und läßt sich nicht irreleiten durch den Hinweis auf einen kleinen Privatbesitz aus königlicher Seitenlinie, den ein Schlitzohr gekonnt vermarktet. Im eigentlichen Königspalast werden die zwei, drei täglichen Besucher von einem Führer begleitet. Er präsentiert Schmuck, Waffen, Mobiliar; aber vor allem erzählt er die Geschichte des Landes in Geschichten. Flüsternd, wenn es um Fetische und Orakel geht, mit rollenden Augen, wenn die kriegslüsternen Amazonen zum Einsatz kommen. Mir läuft eine Gänsehaut über die Arme.
Mit dem Abstecher zum Schlangentempel von Ouidah, einer Kultstätte für Voodoo-Zeremonien, sind die im Reiseführer angegebenen Attraktionen des Landes schon fast erschöpft. Jetzt ist der Blick frei. Die Fahrt in den Norden führt am Lama-Wald vorbei, einem geschützten Urwald, der auf freigehauenen Pfaden gut zu erkunden ist. Drum herum Teakplantagen, vor 40 Jahren angelegt und heute ein Objekt deutscher Entwicklungshilfe. Im vollelektronischen Sägewerk von Bohicon werden die Stämme zu Parkett und Wasserwaagen verarbeitet. Teak- Bäume wachsen schnell und sind enorm widerstandsfähig. Sie überstehen selbst Waldbrände, die regelmäßig und auf großen Flächen gelegt werden. Dichtwachsende Gräser und Sträucher werden auf diese Weise gerodet, um den Boden neu bewirtschaften zu können. An den Rändern dieser weithin lodernden und qualmenden Waldflächen stehen mit Knüppeln bewaffnete Kinder und jagen die flüchtenden Kaninchen. Das Land ist sehr fruchtbar, wenngleich mühsam zu bewirtschaften. Daß Benin zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, hat die UNO sicher am Bruttosozialprodukt gemessen. Für Reisende ist die Armut zumindest weniger sichtbar als in den europäischen Metropolen.
Sobald die Teerstraße endet und die ruckelige Pistentour beginnt, wird die Reise beschwerlich. Autowracks – eindeutiger Beleg für zu hohe Geschwindigkeit – säumen den Straßenrand. Wer eine Panne hat, muß als erstes Zweige von Bäumen oder Büschen abreißen und auf den letzten 50 Metern verteilen. Auf der Piste liegende Blätter fungieren als Warndreieck: Gas weg, liegengebliebenes Auto! Und kaum sind die Zweige verteilt, sind auch schon Helfer zur Stelle, die mit anfassen oder in den nächsten Ort lotsen, zur nächsten Werkstatt. Die von Pontius zu Pilatus mitkommen, bis ein neuer Schlauch gefunden ist, die auch abends noch einen Mechaniker ausfindig machen, der die Heckscheibe repariert, und die schließlich wissen, wo man übernachten kann. Im Dunkeln fahren ist gefährlich, und Hotels sind genauso spärlich vorhanden wie Tankstellen.
Zeit spielt keine Rolle in Benin, und wer sich darauf einlassen kann, wird merken: Warten ist hier nie vergeblich, es gibt immer etwas zu sehen. Nicht zu fassen, im wahrsten Sinne des Wortes, welche Lasten die Frauen auf dem Kopf tragen. Ein zum Ring geformter Stoffstreifen dient als Unterlage für Wassereimer oder Emailleschüssel. Oft sind die Sachen so schwer, daß die Frauen sie nur mit fremder Hilfe auf den Kopf wuchten und wieder abstellen können. Sie gehen kilometerweit damit und haben häufig noch ein Kleinkind auf dem Rücken. Schwere Lasten werden fast immer von Frauen getragen, leichtere von Kindern. Wo es Fahrräder gibt, benutzen sie meist Männer. Ohne Lasten.
Benin ist das Stoffzentrum Westafrikas. Die Märkte von Cotonou, Porto Novo und Natitingou sind eine Augenweide. Frauen und Männer tragen bunt bedruckte Kleidung in allen nur denkbaren Schnitten. Umhänge, Kleider, Hosen oder einfach um die Hüften gewickelte Stoffbahnen. Im Norden gehen islamisch verschleierte einträchtig neben barbusigen Frauen.
Kaum zu glauben angesichts der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern konkurrierender Religionen zum Beispiel im Sudan. In Benin finden sich auch in kleinen Dörfern mit zehn Lehmhütten eine katholische und eine evangelische Kirche neben einer Moschee. Viele Dorfbewohner besuchen sie abwechselnd und lassen sich von der Knochenarbeit auf dem Feld mit Geschichten von Jesus und Allah unterhalten. Voodoo-Priester und -Priesterinnen verlieren dadurch nicht an Bedeutung. Ihre Weisungen werden ebenso geachtet wie ihre Fetische. Nur für Touristen ist es eine Begegnung der dritten Art, wenn im Busch ein Chor „Kommet, ihr Hirten“ anstimmt.
Der Pendjari Nationalpark entschädigt für Reisestrapazen. Schon wer nur eine Rundfahrt von einigen Stunden macht, wird Antilopen und Affenfamilien begegnen. Um Elefanten, Löwen und Büffel zu beobachten, um zu erleben, wie sich Nilpferde schaukelnd aus dem Wasser begeben, muß man etwas mehr Geduld haben. Zumal, wenn man auf die Begleitung eines Försters verzichtet, der die Wasserstellen der Tiere kennt. Eine Nacht im Hotel an der Grenze zu Burkina Faso ist nach der holprigen Fahrt durch den Park eine Wohltat. Die Temperaturen kühlen, anders als im feuchten Süden, auch in der heißen Jahreszeit angenehm ab. Zu kalt für die Einheimischen. Sie haben sich mit Anorak, Mütze und Handschuhen vermummt, während die Touristen nur zum Schutz vor Moskitos langärmelige Hemden tragen.
Benin ist im übrigen kein Land für Hotelexperten. Selbst vier Jahre nach dem Übergang von Plan- zu Marktwirtschaft ist das Land nur wenig berührt von europäischen und amerikanischen (Fremdenverkehrs-)Einflüssen. Auf ein Abendessen warten die hungrigen Hotelgäste unter Umständen lange, weil der Koch erst mal einkaufen gehen muß. Benin ist auch kein Land für Strandurlauber. Die Atlantikküste sieht mit weißem Sand und Palmen aus wie gemalt, aber die enorme Meeresströmung läßt ungetrübtes Baden nicht zu. Und Benin ist kein Land für Fotosafaris. Zwar sind die optischen Eindrücke stark, wenn eine Großfamilie frisch gepflückte Baumwolle zu schneeweißen Bergen auftürmt. Wenn kleine Mädchen orangerote Paprikaschoten zum Trocknen auf grauschwarzem Asphalt ausbreiten. Aber es gibt einen einzigen Moment, wo Beniner und besonders Beninerinnen regelmäßig ungehalten und unfreundlich auf Touristen reagieren: wenn sie gezückte Kameras auf sich gerichtet sehen.
Benin ist ein ideales Reiseland für Leute, die sehen wollen. Sehen, sehen und beobachten. Mit den eigenen Augen, ohne Teleobjektiv.
Anreise: Air France und Sabena fliegen mehrmals wöchentlich über Paris beziehungsweise Brüssel nach Cotonou. Ein Visum ist für Reisende aus Deutschland nicht nötig. Gelbfieberimpfung ist vorgeschrieben, Malariaprophylaxe dringend zu empfehlen. Beste Reisezeit: Dezember bis April.
Literatur: Anne Wodtcke: „Westafrika-Reisehandbuch“, Därr- Reisebuch Verlag, Hohentaun 1991, 39,80 DM. Bruce Chatwin: „Auf Reisen, Photographien und Notizen“, Hanser Verlag, München 1993, 58 DM.
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