Passage Oslo-Kanal

Über die Anstrengung eines kleinen Landes, Idealismus und Realpolitik zu verbinden / Norwegen zwischen EU und Dritter Welt  ■ Von Christian Semler

Südafrika, den Nahen Osten und Mittelamerika haben wir schon erlöst. Aber noch weite Teile der Dritten Welt warten dringend darauf, von uns gerettet zu werden. Angesichts solcher Aufgaben können wir es uns leisten, auf die leichte Schulter zu nehmen, was sich zwischen uns und Europa abspielt. Die EU-Mitgliedschaft Norwegens beispielsweise“. Nils Morton Udgaard, politischer Wissenschaftler und Redakteur beim Osloer Aftenposten träufelt Zitrone auf seinen Lachs und sanfte Zynismen auf seine deutschen Kollegen, die, vom norwegischen Außenministerium eingeladen, in dem sündhaft teuren, unmittelbar am Hafen gelegenen Fischrestaurant „Lofoten“ dinieren. Zwei Tage werden wir informiert, was ein kleines Land, das dank der Ölförderung vor der Küste noch über Cash verfügt, für den Frieden in der Welt tut. Es tut eine ganze Menge. Aber das humanitäre Dritte-Welt-Engagement gerät in Konflikt mit den harten ökonomischen Fakten, die von Brüssel aus ins Haus stehen. Wärmestrom gegen Kältestrom – wie, Nachfahren der Wikinger, wollt Ihr navigieren?

Knapp vier Wochen vor dem Referendum über den EG-Beitritt ist das Land in eine tiefe Orientierungskrise gestrudelt. Auch nach dem „Ja“ der Finnen zur europäischen Union zählt die letzte Meinungsumfrage des Dagbladet 46 Prozent Neinstimmen. 29 Prozent sind für das „Ja“ , die restlichen 25 Prozent noch unentschieden. Diese wenig ermunternde Prognose ficht Norwegens Außenminister, Björn Thore Godal, der als ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Arbeiterpartei mit den Finessen der Parteipolitik vertraut ist, wenig an. „Die Ergebnisse der Umfragen differieren scharf, je nachdem, ob wir fragen „Sind Sie für oder gegen die Mitgliedschaft Norwegens in der EU?“ oder „Wie werden Sie sich entscheiden, falls Finnland und Schweden für die Union votieren?“.

Godal hat in Absprache mit seinen proeuropäisch gesonnenen Kollegen in Stockholm und Helsinki ein geschicktes Szenario aufgebaut, mit einem „Domino-Effekt“ als Konstruktionsprinzip. Vor die Alternative gestellt, zusammen mit Island den schäbigen nordischen Rest „außerhalb Europas“ zu verkörpern, wird, so Godal, die Mehrheit zähneknirschend für den Beitritt zur Union stimmen. Dies allerdings nur für den Fall, daß die Volksbefragung in Schweden mehr als nur hauchdünn für den Beitritt zur EU ausfällt.

Godal war 1972, beim ersten EG-Referendum, entschiedener Gegner der Mitgliedschaft. Heute kennt er keine Alternative. Und er sieht sein Land gut vorbereitet: „Wir Norweger haben wirklich das starke Gefühl, die Besten zu sein. Wir haben das vielleicht stabilste Minderheitskabinett in Europa. Wir haben die Standards von Maastricht schon erfüllt, als sie noch gar nicht erfunden waren. Unsere Inflationsrate ist niedrig, das Staatsdefizit überschaubar. Kein einzelner europäischer Nationalstaat kann heute allein die ökonomischen, sicherheitspolitischen und Umweltprobleme meistern. Wir wollen nicht das Objekt der Lösungen sein, die in der EU gefunden werden, sondern mitentscheiden. Norwegen als kleines exportorientiertes Land ist auf die europäische Dimension einfach angewiesen.“

Der Süden ist pro, der Norden contra EU

Diese Sicht der Dinge teilt zwar die Bevölkerungsmehrheit der im Süden des Landes gelegenen Großstädte Oslo und Stavanger. Aber schon in Bergen wackelt das „Ja“, um dann ab Trondheim nordwärts in eine eisige Ablehnungsfront umzuschlagen. Die Nordlichter machen geltend, daß mit der EU- Mitgliedschaft die 200-Meilen- Zone für den Fischfang aufgehoben und die Einhaltung von EU- Fangquoten in dieser Meeresregion nicht überprüfbar sei. Außerdem wird der Norwegenhering zum (mit einer höheren Fangquote versehenen) Nordseehering, falls es ihm einfallen sollte, den 62. Breitengrad zu durchschwimmen. In den Verhandlungen mit der EU ist es den norwegischen Unterhändlern gelungen, Gelder für einen Regionalfond „arktische Landwirtschaft“ herauszuschlagen – ein Kunststück insofern, als die Arbeitslosigkeit in den nördlichen Distrikten (im Gegensatz zum Süden) niedrig und die Landwirtschaft keineswegs unterentwickelt ist. Aber das hat wenig gefruchtet.

Zu den Ängsten vor einer subventionslosen Zukunft tritt die Befürchtung, eine Jahrhunderte alte Bauernkultur werde an die EU-Stromlinie zwangsangepaßt werden. „Europa“, so sagt der junge Wissenschaftler Dag Lonning vom Christian-Michelsen-Institut in Bergen, „lebt von der Vielfalt seiner Regionen und Kulturen. Die EU wird das Land mit ihrer Einheitszivilisation überziehen und unsere Identität zerstören.“ Befürchtungen solcher Art haben ein neues Schreckensbild hervorgebracht: den deutschen Geldprotz, der quadratkilometerweise die unberührte Natur aufkauft. Empört berichtet die Pressereferentin Ann Ollestad, schwarzhaarig und daher nicht auf den ersten Blick als norwegisches Landeskind identifizierbar, wie sie kürzlich im hohen Norden von einem Bauern (noch dazu auf Deutsch) angeherrscht wurde: „Was treiben Sie auf meinem Grundstück?“. Die harmlose Spaziergängerin war als Kundschafterin der zweiten deutschen Invasion ausgemacht worden.

Im Mittelalter hatten die Pfeffersäcke der Hanse im Bergener Schlupfhafen ihr eigenes, durch Ketten abgetrenntes Viertel – die Welt des frühen, niederen Kommerz. Hoch drüber, in lichten Höhen, erhebt sich heute die Bastion des Idealismus: das Christian-Michelsen-Institut. Seine Mitarbeiter, Entwicklungsexperten auf dem Feld der Wirtschafts-, Sozial- und Rechtspolitik, sind Forscher und Berater in einem. Sei es die Kunst der Budgetaufstellung, sei's die Vermittlung von Planungstechniken, die Vorbereitung und Beobachtung von Wahlen, Berichte über die Lage der Menschenrechte – überall sind sie dabei. Diese Uniquität teilen sie mit den Kollegen vom Norwegischen Institut für Internationale Fragen (NUPI), dem gewerkschaftseigenen Zentrum für sozialwissenschaftliche Forschung (FAFO) und weiteren Instituten und Initiativen.

Die NGO's mischen in der Regierungspolitik mit

Nirgendwo sonst in Europa sind regierungsunabhängige Institutionen (NGO's) mit solchem Erfolg damit beschäftigt, sich in die Regierungsgeschäfte einzumischen. Der gegenwärtige Staatssekretär im Außenamt, der smarte, noch nicht vierzigjährige Jan Egelund, war Chef der norwegischen Sektion von amnesty international, ehe er seinen jetzigen Job antrat. „Hinsichtlich humanitärer Hilfe“, sagt Egelund, „sind wir eine Exportgroßmacht. Ansonsten liefern wir nur Öl und Fisch.“ An die 50 NGO's gibt es im Umfeld des fusionierten Außen- und Entwicklungsministeriums. Im Schnitt haben Egelunds Beamte pro Woche eine Anfrage zu beantworten.

Schon in den 60er Jahren wurde mit dem Entwickungsprojekt für das indische Kerala die Dritte- Welt-Orientierung Norwegens eingeleitet. Seitdem hat das Land sich in rund hundert Staaten engagiert, hauptsächlich in der ehemalig angloamerikanischen Kolonial- bzw. Hegemonialzone. Obwohl frühes und wegen seiner exponierten geostrategischen Lage absolut proamerikanisches Mitglied der Nato, hat Norwegen nie davor zurückgeschreckt, sich mit der westlichen Supermacht anzulegen, wenn es um ein eigenständiges Verhältnis zu Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt ging. Der südafrikanische ANC und die namibische Swapo beispielsweise wurden bereits zu einem Zeitpunkt unterstützt, als die übrigen Nato-Staaten in ihnen nur Werkzeuge des sowjetischen Expansionismus sahen. Auch die Unterstützung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) währte schon viele Jahre, ehe sich das window of opportunity öffnete und der „Oslo- Kanal“ zwischen den Palästinensern und Israelis installiert werden konnte. Das Gaza-Jericho-Abkommen, an dessen Zustandekommen auch Egelund mitwirkte, ist heute das Prunkstück jener Mischdiplomatie, wo persönliche Freundschaften, wissenschaftliche Kontakte und langjährige „gesellschaftliche“ Hilfsaktionen eine ebenso große Rolle spielten wie die Arbeit versierter Profis. „Bei den Verhandlungen in Oslo“, sagt der Staatssekretär, „gab es 90 Prozent Arbeit und 10 Prozent Schlaf. In Washington wurde zur selben Zeit ebenso wenig geschlafen, aber dennoch nichts erreicht. Denn dort ging es um propagandistische Angriffe und Gegenangriffe. Bei uns in Oslo gab es nicht eine Auseinandersetzung über palästinensische oder israelische Terrorakte. Die Delegationen stritten sich bis aufs Blut, aber sie standen nicht unter dem Druck der Öffentlichkeit.“

Mit einer ähnlichen Technik, die nicht als diplomatische Vermittlung, sondern schlicht als facilitating, als „Erleichterungsarbeit“ verstanden wurde und wird, hatten die Norweger schon 1990 die Bürgerkriegsparteien in Guatemala dazu gebracht, ihr Waffenstillstandsabkommen abzuschliessen. Der gleiche Versuch scheiterte bei den Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien. Aber weitere Versuche, deren Erfolgsaussichten daran hängen, daß wir nichts über sie wissen, sind am laufen. „Laßt hundert Blumen blühen, vielleicht wird ein Pflänzchen überleben“, so Egelund, den Vorsitzenden Mao sehr frei paraphrasierend.

Wer so erfolgreich agiert, muß für die Folgekosten aufkommen. Hans Fredrick Lehne, im norwegischen Außenministerium verantwortlich für den gesamten Bereich der humanitären Hilfe, erklärt das Dilemma, in das Norwegen als Koordinator der westlichen Zuwendungen für Gaza und Jericho geschlittert ist. Eigentlich sind die Gelder für die Entwicklung der Infrastruktur bestimmt, aber auf der palästinensischen Seite existiert noch kein Ansprechpartner, mit dem über konkrete Projekte verhandelt werden könnte. Wer um so lauter anklopft, sind die in Entstehung begriffenen Verwaltungs- und Polizeiorgane der PLO. Eigentlich schließt Norwegen law enforcement von der Entwicklungshilfe aus.

Aber wenn der ganze Friedensprozeß daran hängt, daß der Dollar rasch bewegt wird, zahlt sich, so Lehne, Prinzipientreue nicht aus. Und daß innerhalb der ursprünglich angesetzten Frist, Frühjahr 1995, die Palästinenser in der Lage sein werden, mittels eigener Finanzbehörden Steuern einzutreiben, glaubt auch Hans Lehne nicht. Die EU, die G-7-Staaten und nicht zuletzt Norwegen werden Arafats Apparat weiter zu finanzieren haben.

Die Entwicklungspolitik soll neu bestimmt werden

Knapp 4,5 Millionen Menschen heißen es parteienübergreifend immer noch gut, daß jährlich über ein Prozent des Bruttosozialprodukts in die Entwicklungshilfe gesteckt wird. An den (sinkenden) Einnahmen aus dem Ölgeschäft könnten sich die Norweger schließlich selber mästen! Norwegen steht an siebter Stelle der UNO-Einzahler, ist Zahlungs- Weltmeister beim UNHCR, besoldet die Blauhelmeinheiten, die unter anderem das Embargo gegen die bosnisch-serbische Republik überwachen und bildet sie, zusammen mit den anderen skandinavischen Staaten, in dem „Klein-Libanon“ genannten Trainingszentrum Minisalo auch aus.

Während die UNO nur ein Prozent ihres Budgets für den Aufbau neuer Demokratien und die Sicherung der Menschenrechte aufwendet, hat Norwegen mit der Expertentruppe „Nordem“ ein jederzeit abrufbares Instrument für die Vorbereitung von Wahlen, den Aufbau von Justiz- und Verwaltungsstrukturen und Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen geschaffen. „Es ist leichter, ein Bataillon Soldaten für Kriseneinsätze zu bekommen als einen Wahlrechtsexperten oder Verfassungsjuristen zu mobilisieren“, meint Espen Bart Eide, Spezialist für Blauhelme am Osloer Institut für internationale Beziehungen NUPI.

Immer noch malen auch diejenigen Intellektuellen, deren Haltung zum Wohlfahrtsstaat mehr als kritisch ist, das Bild ihrer Gesellschaft in den Grundfarben der Solidarität und des lutherischen Christentums. Offensichtlich ist hier – immer noch – die positive Vorderseite des Puritanismus am Werk, dessen Rückseite bis vor kurzem für eine fast kneipenlose Hauptstadt sorgte und sich in extremistischen Alkohol- und Tabaksteuern niederschlägt. Ein durch Bescheidenheit und Selbstironie kaschierter Missionierungsdrang. Das Selbstgefühl einer Gesellschaft, die beides sein will – patriotisch und internationalistisch.

Dieses Selbstbild ist natürlich viel zu schön, um wahr zu sein. In der öffentlichen Meinung wird zunehmend das Mißverhältnis zwischen der Ausgaben- und der Einnahmenseite bei der Entwicklungshilfe thematisiert. Dem Experten für humanitäre Hilfe, so heißt es, folge viel zu selten der Handelsvertreter auf den Fuß. Frankreich, so wird moniert, ziehe aus der UNO viermal so viel, wie es hineinstecke.

Das gesamte Engagement in der Dritten Welt unterliegt jetzt der Evaluation durch eine vom Parlament ernannte Arbeitsgruppe. Die Asyl- und Einwanderungspolitik des Landes ist restriktiv, Zeichen von Ausländerfeindlichkeit beunruhigen die kritische Publizistik. Zwar wird von offizieller wie von wissenschaftlicher Seite versichert, zwischen europäischer und Dritt- Welt-Orientierung bestünde kein Gegensatz. „Europa“, sagt Außenminister Godal, „braucht diese nordische Komponente“. Schön wär's.