: Die verbrannten Dörfer Kurdistans
Trotz zahlreicher Medienberichte über die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer durch die türkische Armee leugnet Ministerpräsidentin Tansu Çiller beharrlich ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
„Wir haben unsere Kinder nicht geboren, damit die Soldaten des Staates sie ermorden“, ruft eine Frau aus der Provinz Tunceli. Sie hat zusammen mit anderen Frauen im Parteibüro der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP) einen Protesthungerstreik organisiert. Zwangsevakuierungen und das Abbrennen von Dörfern, die in den Augen des Militärs die kurdische Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) unterstützen, gehören seit Jahren zur Strategie des türkischen Militärs. Der Jahresbericht des türkischen Menschenrechtsvereins benennt genau 1.334 Dörfer, die im Laufe der vergangenen drei Jahre von Soldaten zwangsgeräumt beziehungsweise zerstört wurden.
Daß die Zerstörung der Dörfer in Tunceli auch mittels der türkischen Medien eine breite Öffentlichkeit erreichte, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß die Bevölkerung Tuncelis der alawitischen Glaubensrichtung des Islam angehört. Während die Muttersprache der sunnitischen Mehrheit der Kurden in der Türkei das Kurmandschi ist, sprechen die alawitischen Kurden das Zaza. Die Alawiten Tuncelis, die in ihrer Geschichte sowohl staatlicher Repression wie Angriffen sunnitischer Kurden ausgesetzt waren, galten als feste Wählerbasis der Sozialdemokratischen Volkspartei. Und die ist als kleinerer Koalitionspartner in der Regierung.
„Ich schwöre auf meine Ehre und auf den Koran. Die Soldaten brennen Dörfer nieder. Selbst das Haus meiner Schwiegermutter wurde abgebrannt. In Tunceli sind 17 Dörfer von der Landkarte getilgt worden“, rief auf einer Sitzung der Plan- und Haushaltskomission des türkischen Parlaments der sozialdemokratische Abgeordnete Sinan Yerlikaya, dessen Heimat Tunceli ist. Über 300 Bauern, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden, haben mittlerweile Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft gestellt. Doch die Aussagen Hunderter Vertriebener, die Berichte von Augenzeugen und Berichte der Medien werden von der Regierung geleugnet.
Dabei erreichen die amtlichen Reaktionen tragikomische Qualität. „Und wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde nicht daran glauben“, sagt die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller und macht die PKK für die Zerstörung der Dörfer verantwortlich. Selbst als offenkundig wurde, daß Helikopter der Zerstörung der Dörfer aus der Luft Begleitschutz gaben, hielt Çiller daran fest: Vielleicht setze die PKK ja Hubschrauber ein.
Die Sozialdemokraten, die öffentlich gegen den dreckigen Krieg protestierten, werden derzeit von der Parteispitze zur Räson gebracht. Der für Menschenrechtsfragen zuständige Staatsminister Azimet Köylüoglu hatte zugeben müssen, daß das Militär Dörfer in Brand steckt. In Fernsehsendungen zählte er die Dörfer sogar namentlich auf. Seit einigen Tagen hat der windige Köylüoglu seine Meinung geändert. „Der Staat steckt keine Dörfer in Brand.“
Die Zerstörung der Dörfer, die Vertreibung Hunderttausender Menschen und die politischen Morde sind Teil der Strategie, die der kurdischen Guerilla das Rückgrat brechen soll. Die türkische Regierung deckt vorbehaltlos die „Kriegsführung“, die in den Händen der Generäle liegt. Beide Seiten legen in dem blutigen Kampf, der seit 1984 über 13.000 Menschen das Leben kostete, zweifelhafte Erfolgsbilanzen vor. General Hasan Kundakci, Regionalkommandant der Gendarmerie in Diyarbakir, spricht davon, daß von den zu Jahresbeginn aktiven 9.000 „Terroristen“ bisher 3.500 getötet worden seien. Die PKK behauptet, im Oktober 706 Soldaten und 169 Dorfmilizionäre getötet zu haben. Während Dorfvorsteher, die über die Taten der türkischen Armee öffentlich auspackten, von Todesschwadronen der Armee aufs Korn genommen werden, töten die Guerilleros türkische Dorfschullehrer in den kurdischen Regionen. Vergangenen Samstag stoppten Guerilleros einen Fernbus in der Provinz Mardin und erschossen vier Dorfschullehrer, die sie aus den Passagieren herauspickten. Seit Beginn des Schuljahres wurden 17 Lehrer getötet.
In dieser Situation werden die Nachwahlen zum türkischen Parlament am 4. Dezember kaum dem Willen der Bevölkerung Rechnung tragen. Von 22 neu zu wählenden Abgeordneten werden 16 in den kurdischen Regionen gewählt. Die Mandate sind frei, weil die kurdischen Abgeordneten im Gefängnis einsitzen oder ins Ausland geflohen sind. Die Nachfolgepartei der verbotenen kurdischen Partei der Demokratie, die Arbeitspartei des Volkes (HADEP), hat bereits ihre Wahlteilnahme abgesagt. „Wo Krieg herrscht, kann es keine Wahlen geben“, erklärt auch die PKK. Rund 700.000 im Zuge der militärischen Operationen Vertriebene sind nicht auf den Wahllisten aufgeführt.
Die kurdischen Stämme, die als Dorfmilizionäre im Kampf gegen die PKK vom Staat bezahlt werden, werden bei den Wahlen den Ton angeben. So hat die regierende Partei des rechten Weges unter Ministerpräsidentin Tansu Çiller neben den Islamisten der Wohlfahrtspartei die besten Chancen, die Abgeordnetenmandate zu gewinnen.
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