: Festlicher Brückenschlag und feste Schläge der Polizei
■ Oberbaumbrücke für Autoverkehr freigegeben / Rüde Zivilpolizisten unterbanden jeden Protest / Mehrere tausend bei abendlicher Demonstration
Der Friedrichshainer Bürgermeister Helios Mendiburu (SPD) verzichtete ganz auf Rede und Erscheinen auf der Oberbaumbrücke. Aus Protest gegen die „Verscheißerung“ der Bevölkerung, wie er mitteilte. Auch sein Amtskollege von der Kreuzberger Seite der Spree, Peter Strieder (SPD), ließ es sich nicht nehmen, die verfehlte Verkehrspolitik des Senats zu geißeln. An der Oberbaumbrücke „werden in den nächsten Jahren Zigtausende von Menschen Zigtausende von Stunden im Stau stehen, gesellschaftliche Kosten verursachen, Abgase erzeugen, Menschen gesundheitlich schädigen“, wetterte Strieder, der demonstrativ mit einem Elektroboot angereist war.
Dies blieb am fünften Jahrestag des Mauerfalls der einzig erlaubte Widerspruch. Jeder Protest aus den Reihen der Zuhörer wurde von der Polizei in knüppelharter Stasi-Manier abgewürgt: Mindestens ein Dutzend Störenfriede, die für die Ansprache des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) und Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) nur Pfiffe und Buhrufe übrig hatten, wurden von zivilen Rollkommandos der Polizei aus der Menge gegriffen und unter Schlägen und Tritten von der Brücke gezerrt.
Aber auch Menschen, die nur ein Transparent zeigen wollten, wurden abgeführt. Ziel von Polizeieinsätzen wurden der Alt-Kommunarde Dieter Kunzelmann und der Abgeordnete Hartwig Berger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ein Mitarbeiter der Stadtteilinitiative „SO 36“, der einen Buhruf gewagt hatte, wurde von sechs Ordnungshütern gepackt und am Hosengürtel etwa 50 Meter weit über den Asphalt geschleift. Einige der Beamten, die nach seinen Angaben mehrmals auf ihn einschlugen, trugen nicht einmal die gelben Armbinden, die sie als Polizisten ausweisen. Insgesamt neun Personen wurden nach Angaben eines Polizeisprechers festgenommen.
Zum Schutz vor „unfriedlichen Aktionen“, so ein Polizeisprecher, waren 900 Beamte mit Hunden, Räumpanzern und Wasserwerfern im Einsatz. Auch auf den umliegenden Dächern und den Baugerüsten auf der Brücke waren Beamte postiert, selbst auf der Spree patroullierten mehrere Polizeiboote.
Mehrere hundert Demonstranten, die sich hinter einem Polizeikordon am Gröbenufer versammelt hatten, machten dem Marschmusik blasenden BVG-Orchester mit einem fast ununterbrochenen Pfeifkonzert Konkurrenz.
Viele geladene Gäste – darunter zahlreiche Politiker, Architekten und Stadtplaner – waren fassungslos über die polizeiliche Härte gegenüber den Demonstranten, die mit gefälschten Karten Einlaß in den streng abgeschirmten Brückenbereich gefunden hatten. „Hier sind nur Claqueure erlaubt“, murrte ein Gast Diepgens. „Schlimmer als die Stasi“, kommentierten andere das polizeiliche Vorgehen.
Auf der schwarz-rot-gold beflaggten Brücke sagte Diepgen währenddessen, die Öffnung der Brücke sei ein wichtiger Beitrag für das Zusammenwachsen der einst geteilten Stadt und schaffe „ein Stück Normalität“. Während der Rede traf ihn ein giftgrünes Farbei am Ärmel. Rot vor Wut rief Diepgen, „wir lassen uns nicht von kleinen Minderheiten terrorisieren“.
Am Abend versammelten sich mehr als zweitausend Menschen zu einem Umzug vom Kottbusser Tor zur Oberbaumbrücke. Das Oberverwaltungsgericht hatte am Nachmittag das Betreten der Brücke verboten, da mit Ausschreitungen zu rechnen sei. Die Abschlußkundgebung fand deshalb am Schlesischen Tor statt. Bei Redaktionsschluß flogen dort erste Steine und Molotowcocktails. Frank Kempe
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