: Doppelte Staatsbürgerschaft
■ betr.: „Konservativ und manipu liert“ (Wießner), taz vom 15.10.94, „Dreigliedriges Hetzarsenal“ (Fo raci), taz vom 29.10.94, LeserIn nenbriefe dazu, taz vom 27.10./4.11.94
[...] 1. Die Vergabe der Staatsbürgerschaft und damit neben sozialen Rechten und Pflichten auch des Wahlrechts erfolgt unabhängig von der politischen Gesinnung (das hat nämlich was mit Demokratie und Meinungsfreiheit zu tun [...]).
Sollte es aber demnächst einmal anders sein (man weiß ja nie), darf man angesichts der herrschenden Mehrheitsverhältnisse davon ausgehen, daß Irina Wießner nicht zu denjenigen gehört, die die Kriterien dafür festlegen, sondern zu denen, auf die sie angewandt werden.
2. Deshalb ist auch der Einsatz zum Beispiel der von Irina Wießner erwähnten und kritisierten Grünen für die doppelte Staatsbürgerschaft selbstverständlich unabhängig davon, ob die so Eingebürgerten dann Grün wählen.
3. Unabhängig von den schwer erträglichen Verallgemeinerungen (die in der Erwiderung von Franco Foraci ja letztlich nur positiv wiederholt werden) muß ich wohl nicht darauf hinweisen, daß Patriarchat und Frauenfeindlichkeit keine Erfindung türkischer Männer sind und daß es sich dabei auch nicht um Denk- und Verhaltensweisen handelt, die deutschen Männern grundsätzlich fremd wären.
4. Im übrigen hätte ein Blick auf die dem Artikel beigefügte Graphik genügt, um zu zeigen, was wir hier hätten, wären die hier lebenden TürkInnen wahlberechtigt – nämlich eine rot-grüne Regierung. Matthias Herzler, Berlin
Der Artikel von Irina Wießner und die zustimmenden Leserbriefreaktionen zeigen einmal mehr, worin die „Zivilisierung“ (Antje Vollmer) des Staatswesens BRD besteht, die sich 68er so stolz an die Brust heften. Jede Schweinerei, die das Vaterland ausheckt, garnieren die zu Patentdemokraten geläuterten Linken mit einer gehörigen Portion Moral:
– Wenn die Bundesregierung im nationalen Interesse Auslandsinterventionen der Bundeswehr durchsetzen will, liefern zivilgesellschaftliche „Antifaschisten“ die Begründung: In Jugoslawien finde ein zweiter Holocaust statt, Deutschland müsse gerade wegen seiner Vergangenheit eingreifen etc.
– Der deutsche Staat liefert dem Nato-Partner Türkei aus strategischen Interessen Waffen. Bei Irina Wießner wird die Weltmacht BRD dagegen zum Lakaien des türkischen Staates und seiner angeblichen fundamentalistisch-faschistischen fünften Kolonne in der Bundesrepublik.
– Deutsche Politiker haben den Verdacht, eine doppelte Staatsbürgerschaft könne die Loyalität der deutschen Untertanen beeinträchtigen. Irina Wießner hingegen lehnt die doppelte Staatsbürgerschaft ab, um die rundum fortschrittliche BRD vor reaktionärer Infektion zu bewahren.
Bei soviel Sorge um die Demokratiefähigkeit deutscher Neubürger ist es doch verwunderlich, daß sich noch niemand darüber aufgeregt hat, daß 16 Millionen DDR- Bürger – trotz 40jähriger SED-Manipulation – ohne Ansehen der Person einfach zu BRD-Bürgern gemacht wurden. Die staatliche Begründung war denkbar einfach: „Das sind doch auch Deutsche!“ Irina Wießner würde hinzufügen, daß die Ossis ja nur eine Staatsbürgerschaft haben und deshalb auch nur der BRD gegenüber loyal sein können. Darum und um nichts anderes geht es in ihrem Artikel: Sie nimmt es potentiellen „Doppelbürgern“ (Rudolf Augstein) übel, daß diese eventuell „keine ,neutralen‘ Wähler, denen die Zukunft der neuen Heimat am Herzen liegt,“ sein könnten. Auch ehemalige Ausländer sollen eben zu ganzen deutschen Nationalisten werden und nicht nur zu halben. Dieses Anliegen teilt sie mit allen reaktionären Staatsfetischisten. Wießners „fortschrittliche“ Furcht vor konservativen und manipulierten Ausländern zeigt nur, wie wenig sie sich vor ihren konservativen und manipulierten Landsleuten und der über sie herrschenden deutschen Staatsgewalt fürchtet. Andreas Benl, Berlin
[...] Zwar würden wir uns scheuen, Frau Wießner als Rassistin zu bezeichnen, wie Franco Foraci dies in seinem Artikel getan hat. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Frau Wießner zutiefst in den rassistischen Diskurs der BRD verstrickt ist.
Die Verstrickung Frau Wießners in den rassistischen Diskurs machen wir an ihrer durchgängigen Argumentationsfigur fest, mit demokratisch und menschenfreundlich klingenden Sätzen zugleich eine als „Rasse“ konstruierte Gruppe (die Türken) insgesamt negativ zu bewerten. Daran ändert auch nichts, daß Frau Wießner ihre Äußerungen und Kritik dann und wann mit Formulierungen wie „vielfach“, „meist“ oder ein „äußerst großer Teil der türkischen Volksgruppe“ einzuschränken versucht. Mit ihrer dezidierten Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft werden ihre negativen Bewertungen und Unterstellungen allen Türken zugeschrieben.
Wenn Frau Wießner verallgemeinernd und pauschalierend davon spricht, daß „türkische Wähler mit doppelter Staatsbürgerschaft keine ,neutralen‘ Wähler“ seien, dann homogenisiert sie nicht nur diese Personengruppe, sondern konstruiert gleichzeitig die deutschen WählerInnen als ein (Kollektiv-)Subjekt, das mit einem irgendwie gearteten Interesse ausgestattet sei. Diese Konstruktion hält jedoch der rassistische Diskurs bereit, deren sich Frau Wießner an dieser Stelle bedient.
Eine Ethnisierung nationalistischer sowie auch sexistischer Verhaltensweisen ist immer wieder auch in anderen Medien und auch im alltäglichen Sprechen zu beobachten. Und sie ist keineswegs harmlos: Da damit ein latenter Rassismus in der Bevölkerung weiter geschürt wird und dieser Diskurs Applikationsvorgaben für konkretes Handeln produziert, trägt sie durch die Anrufung von Ängsten und Gefahren mit dazu bei, die Gefahr neuer Pogrome gegen Einwanderer und Flüchtlinge wachzuhalten. Frau Wießner ordnet sich mit ihren Ausführungen also in die Riege derjenigen ein, die das Thema Einwanderung in den letzten Jahren konfliktverschärfend (statt -entschärfend) auf breiter Front in die Öffentlichkeit getragen haben.
Das Thema „doppelte Staatsbürgerschaft“ spielt dabei dann kaum noch eine besonders wichtige Rolle. Es wird sozusagen für eine Argumentationsfigur instrumentalisiert, die den rassistischen Diskurs zu stärken in der Lage ist. Dennoch: Die Ermöglichung der doppelten Staatsbürgerschaft würde sich konfliktentschärfend auswirken und könnte eine Brücke zwischen verschiedenen Gruppen bauen, auf der man sich begegnen könnte. Daß ein solcher Schritt nicht längst unternommen wurde, das ist dafür mit verantwortlich, daß in Deutschland ein Klima des Hasses und der Pogrome entstehen konnte. Selbstverständlich ist dies nicht das einzige Versäumnis der deutschen Einwanderungspolitik. Und die Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft wäre auch nur ein kleiner Beitrag zur Lösung der Probleme. Er wäre aber Bestandteil einer umfassenderen Einwanderungspolitik, die mittelfristig oder auch langfristig das Ziel erreichen könnte, als demokratisch angesehen werden zu können. Solange dies noch nicht der Fall ist, sollte man fehlende Demokratie in anderen Ländern nicht dafür instrumentalisieren, mögliche demokratische Entwicklungen in Deutschland zu desavouieren.
Dabei soll hier nicht einer Tabuisierung der Diskussion nationalistischer Auffassung bei türkischen EinwanderInnen das Wort geredet werden. Allein der politische Hintergrund in der BRD zwingt jedoch zu einer differenzierteren Sprache, als Frau Wießner sie in ihrem Artikel praktiziert hat. Siegfried Jäger, Margret Jäger, Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS)
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