Heym hatte sich ja schon diebisch gefreut, "denen da" anläßlich der Eröffnung des Bundestages heymzuleuchten - aber alles blieb höflich, vor allem der Alterspräsident selbst, der durch seine gemäßigte Rede die PDS in den demokratischen Raum

Heym hatte sich ja schon diebisch gefreut, „denen da“ anläßlich der Eröffnung des Bundestages heymzuleuchten – aber alles blieb höflich, vor allem der Alterspräsident selbst, der durch seine gemäßigte Rede die PDS in den demokratischen Raum hievte. Nur eins blieb unbemerkt:

Heym schlägt Oggersheim zu Frankreich

Also kein Eklat, keine noch so winzige verbale Handgranate, nicht mal Murren. Niemand verläßt während der Rede Stefan Heyms beleidigt-würdevoll den Plenarsaal des Reichstags, um später unbeachtet zurückzukommen. Im Gegenteil, ausnahmslos alle Volksvertreter nehmen Platz und harren aus. Die CDU/CSU-Fraktion hält sich eisern an die vorher festgelegte protokollarische Marschroute. Sie schweigt monolithisch, keine Hand rührt sich zum Beifall, weder vor noch nach der Rede Heyms. Alle anderen Fraktionen (auch die FDP!) applaudieren gemessen dem Alterspräsidenten. Die Garderoben, das Gebaren, die Sicherheitskräfte – alles bleibt höflich, zurückhaltend, würdig. Wie das Plenum, so sein Alterspräsident. Von Stefan Heyms Ankündigung, er freue sich schon diebisch darauf, „denen da“ anläßlich der Parlamentseröffnung heymzuleuchten, ist wenig übriggeblieben. Heym will an diesem Tag nicht angreifen, sondern versöhnen. Er fordert zur Meisterung der Krise, die er mehr beschwört als erklärt, die große Koalition der Vernunft. Sie abzuschließen setze allerdings die Koalition der Vernünftigen voraus. Sollte es dem Alten darum gegangen sein, durch seinen Auftritt der PDS ein respektableres Entreé zu verschaffen, so hat er damit Erfolg gehabt.

Der Einstieg ist klug gewählt. Seine frühere Position revidierend, nach der er sich als erster Alterspräsident der Linken seit Clara Zetkin sah, beschwört Heym jetzt das Andenken Willy Brandts, des Eröffnungsredners im Jahr 1990. „Wir alle“, sagt er, „stehen immer noch in seiner Pflicht.“ Das ist ein gänzlich anderer Ton als das „Scharping und Konsorten“ des siegreichen Direktkandidaten auf der PDS-Wahlparty am Alexanderplatz. Den Sozialdemokraten bleibt nichts, als zu klatschen. Die dann folgende Erinnerung an Clara Zetkins Rede vom August 1932 ist überhaupt nicht konfrontativ. Auf Clara, der (auch gegenüber der eigenen Partei) Hochherzigen, folgte als Reichstagspräsident Hermann Göring, auf von Schleicher als Reichskanzler Hitler. Heym ist Zeitzeuge. Er hat den Reichstag brennen sehen und sich mit knapper Not nach Prag gerettet. Wenn er die Hoffnung ausspricht, die heutige Demokratie möge fester gegründet sein als die von Weimar, dann ist da nicht nur Rhetorik am Werk, sondern bittere Lebenserfahrung.

Die gewachsene Bedeutung des vereinten Deutschland kontrastiert Heym dann mit dem bisherigen Mangel an „zivilen Lösungen“ für die globalen wie innerdeutschen Probleme. Als Maßstab und als Anweisung zu wohltemperierter Heimatliebe dient ihm dabei Brechts patriotische Gebrauchslyrik „Und nicht über und nicht unter andern Völkern woll'n wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein“. Daß damit stillschweigend Oggersheim zu Frankreich geschlagen wurde – Heym mochte es billigend in Kauf genommen haben. In dieser Passage seiner Rede blitzt ein einziges Mal wirklich scharfe und treffende Polemik auf: „Nicht die Flüchtlinge, die zu uns drängen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.“

Ansonsten bestimmt eine Art feierlicher Globalismus Heyms kritische Anmerkungen. Den Globus selbst bringt er ins Spiel, um sich zu fragen, wie lange er sich wohl noch von produktions- und konsumtionssüchtigen Menschen wie bisher traktieren lasse. Und wie lange (eine sozialistische Reminiszenz?) sie es sich noch gefallen ließen, wie die produzierten Güter verteilt würden.

Stefan Heym kann und will auch in dieser Rede seine Herkunft, seine alten wie seine neuen Freunde nicht verleugnen. In nahezu dem gleichen Atemzug erinnert er daran, daß es das Volk der DDR war, das sich die Freiheit gewaltlos erkämpfte und daß es die Waffenträger der DDR waren, die im Augenblick der Krise auf deren Gebrauch verzichteten. Generalpardon also für den Machtapparat, der auf die „Pekinger Variante“ verzichtete. Die Bürgerbewegten von damals werden das anders sehen. Auch daß der Kalte Krieg und die Spaltung Deutschlands mitsamt der „schrecklichen Mauer“ historisch gesehen das Resultat des Nazi-Regimes waren, werden sie nicht unwidersprochen lassen. In solchen Ableitungen zeigt sich ein geschichtlicher Determinismus, der keine andere als eine entschuldigende Funktion hat.

Heym fragte: „Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem früheren Leben der DDR, die für die gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte?“ Er spricht von Erfahrungen aus dem Leben der DDR nicht in der DDR, ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Unterschied. Denn was Heym als bewahrenswert ansieht, es ist nicht die schwierige Lebenspraxis, die den widrigen Umständen zum Trotz gemeisterte individuelle Biographie, sondern „der gesicherte Arbeitsplatz, die gesicherte Laufbahn, das gesicherte Dach überm Kopf“. Mit einem Wort: Sicherheit. Heym ist sich darüber im klaren, wie schwer es ist, disparate Erfahrungen zu vereinen, um so mehr, wenn einer der Ehehälften kein Hehl daraus macht, daß nur zählt, was sie einzubringen hat. Er schildert die Angst der Eheleute.

Aber Heym geht es gar nicht um die Entwertung von Können und von Erfahrung, um diesen Absturz in die Würdelosigkeit. Er will vielmehr ein Bild der ehemaligen DDR als Hort der Geborgenheit evozieren. Er glaubt für Solidarität und Gerechtigkeit einzutreten, was herausspringt, ist Gängelung, ist ein nach rückwärts gewandtes, zum Scheitern verurteiltes Projekt. Christian Semler