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Unterdrückte Idealisierte

■ Erving Goffman über das Geschlecht als zuverlässigste Quelle von Identität

Seine große Zeit hatte der amerikanische Soziologe Erving Goffman in den sechziger und siebziger Jahren. Es schien so, als hätten wir in ihm einen, der die Entmündigung sogenannter Geisteskranker in totalen Institutionen exponierte und zugleich die pfiffigen Selbstbehauptungsstrategien ebendieser Patienten zum Mut machen für alle auch außerhalb dieser Einrichtungen beschrieb. Daß hinter der bloßgestellten theatralischen Inszenierung des Selbst unser wahres Selbst im Zustand der Nichtentfremdung aufschien, galt den Soziologiestudenten in Berkeley und Berlin für ausgemacht. Ein Mißverständnis, das einen wissenschaftlichen Außenseiter immerhin zum Präsidenten der amerikanischen Soziologenvereinigung beförderte, wenn auch nur kurz und als er schon von tödlicher Krankheit gezeichnet war.

Die Bedeutung und die Aktualität von Goffman (1922-1983) wird erst heute wirklich klar. Er ist allerdings, das hat er mit anderen großen Anregern und produktiven Köpfen wie Norbert Elias und Michel Foucault gemein, kein Theoretiker, kein akademisch ordentlicher Systematiker, sondern ein Intuitionist, der wissenschaftlich sozialisiert ist. Wie Foucault die Penetration der Macht, Elias die Zivilisierung der Gewalt, so hat Goffman die konkrete Interaktion von Individuen im scheinbar banalen Alltag gefesselt. Alle drei mußten sich als Wissenschaftler mit einem Kanon von Problemen und Anforderungen auseinandersetzen und taten das mehr oder weniger überzeugend, oft um den Preis, daß sie sich überflüssiger Kritik auslieferten und ihre eigentliche Message darunter begraben wurde.

Auch Individualität wird hergestellt

So wenig man Foucault oder Elias einfach widerlegen kann, so wenig Sinn macht es, Goffman als Kritiker der Entfremdung, wie ehedem, oder als Pionier eines später gereiften Konstruktivismus zu deuten, wie es heute geschieht. Ein Intuitionist hängt Wahrnehmungen nach, für die noch keine Brille existiert, ja er kann noch nicht einmal Auskunft darüber geben, welche Konsequenzen aus seinen Wahrnehmungen zu ziehen wären, sollte er sie uns denn glaubhaft gemacht haben. Wenn uns die Theatralik der Interaktion im Alltag klar geworden ist, sollen wir ihr dann ein Ende machen oder macht uns die Einsicht wenigstens zu besseren Spielern? Die Frage, warum Soziologen sich ausgerechnet in angeblich so komplexen und arbeitsteiligen Gesellschaften mit den Interaktionen physisch präsenter Individuen befassen sollen, beantwortet Goffman ausweichend. Er macht im ersten der beiden Aufsätze über die „Interaktionsordnung“ immer neue Anläufe zur Selbstverteidigung und zum Selbstverständnis, und der Leser folgt ihm in einer ganz spezifischen Mischung von Interesse, Erwartung und Frustration.

Ich denke, daß Goffmans Untersuchung vor der Zeit auf eine Tendenz moderner Gesellschaften reagierte, die mit dem Stichwort „Individualisierung“ leicht mißverständlich charakterisiert wird. Die Frage, wie Gesellschaft möglich ist, kann nämlich in demokratischen, postkonventionellen, liberalen Zeitläuften immer weniger durch den Verweis auf Traditionen, Verträge, Werte und Erziehungseffekte, auch nicht auf Macht und Herrschaft, plausibel erklärt werden. Wir sind weniger widerstrebend vergesellschaftete Individuen, als daß unsere Individualität, unsere Person, unsere Identität, unser wahres oder falsches Selbst soziale Effekte sind, die interaktiv produziert und reproduziert werden. In der „Gesellschaft der Individuen“ (Elias) bleibt ein bemerkenswert resistenter Anknüpfungspunkt für diesen Vorgang die Biologie, neben Alter und ethnischer Zugehörigkeit insbesondere das Geschlecht. Nicht die Religion, das Geschlecht sei das Opium des Volkes, behauptet Goffman in dem zweiten großen Aufsatz, der hier deutschen Lesern zum ersten Mal zugänglich gemacht wird. Oberflächlich betrachtet – keine völlig falsche Lesart bei einem solchen Autor – handelt es sich um eine Analyse des amerikanischen Mittelklassepatriarchats. Frauen sind im öffentlichen Leben unterrepräsentiert, im Beruf gehandikapt und so weiter – das alles war 1977 noch nicht so bekannt wie heute. Andere Beobachtungen sind dagegen noch nicht so abgetragen. Einmal ist das Geschlecht – bemerkt Goffman – in einer Gesellschaft der Individuen die zuverlässigste Quelle zur Abschöpfung von Identität. Sie sprudelt in jedem Alter, bei Arm und Reich, Kranken und Gesunden. Zum andern bildet das heterosexuelle Paar den Idealfall des Publikums, das zugleich Schauspieler ist. Männer und Frauen bestätigen sich wechselseitig unentwegt in ihrer sogenannten Natur, will sagen, ihrer basalen Identität. Während der Umgangsstil auch zivilisierter Mittelklassemänner sich von Konfrontation, Wettbewerb und Kampf nicht weit entfernt, befleißigen sie sich Frauen gegenüber des Protektionismus. Schlimmer noch, Frauen stellen in aller Einverständnis den singulären Fall einer Gruppe dar, die, unterdrückt und gleichzeitig idealisiert, mit dem Unterdrücker zusammen in einer Wohnung lebt!

Moderne Gesellschaften können sich Toleranz und mehr gegenüber sexuellen Minoritäten leisten, weil sie mehr als jede Gesellschaft zuvor das Geschlecht und das heterosexuelle Publikum des Paars privilegieren – nicht aus ideologischen, sondern aus psychologisch bloß vermittelten, strukturellen Gründen. Diese machen die Verlangsamung der weiblichen Emanzipation verständlich, die nun auch die CDU mit Quotenregelungen wieder beschleunigen will. Sie erklären aber ebenso den Erfolg des Feminismus über den Kreis der Betroffenen hinaus. Vielleicht sind seine Dramatisierungen überlebensnotwendig und staatserhaltend in einer Gesellschaft, der wenig Verbindlicheres mehr geblieben ist als die These, daß Männer herrschen und Frauen leiden. Und beschützt werden müssen ...

Katharina Rutschky

Erving Goffman: „Interaktion und Geschlecht“. Hrsg. von Hubert A. Knoblauch. Mit einem Nachwort von Helga Kotthoff. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 180 Seiten, 34 Mark.

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