Narziß als Nationalsozialist

Wie wird man Faschist? Klaus Theweleits zweites panoramatisches „Buch der Könige“ sucht Antworten und hinterläßt Fragen  ■ Von Mathias Bröckers

„Als Gottfried Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Geziefer verwandelt. Er lag auf einem panzerartig harten Rücken ... Es waren Stimmen im Raum. Samsas Radio war die ganze Nacht gelaufen. Gottfried richtete sich zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. – Was ist mit mir geschehen? –, dachte er. Es war kein Traum. Er war Nazi geworden.“

Wie wird einer Faschist? Kann sich jemand, der gestern noch Mensch, Arzt und Künstler war (wie Gottfried Benn) gleichsam über Nacht in ein faschistisches Geziefer verwandeln? Wie kommt es, daß ein hochgeehrter und gelehrter Dichter (wie Knut Hamsun) seine Nobelpreismedaille für Literatur dem Möchtegernschriftsteller Joseph Goebbels verehrt? Was treibt einen wortmächtigen jungen Wilden (wie Louis-Ferdinand Céline), von Trotzki gerade als neues literarisches Genie gepriesen, in seinem schwarzen Haß auf alles und jeden dazu, alles Jüdische mit besonderer Inbrunst zu hassen? Warum schmeißt sich die in Frankreich residierende Avantgarde-Königin (und Jüdin) Gertrude Stein an die Vichy-Nazis ran und übersetzt begeistert General Pétains Reden? Was bringt einen amerikanischen Ästheten und Geistesmenschen (wie Ezra Pound) dazu, vor Mussolinis Mikrofonen für die Achse Rom- Berlin zu trommeln? „Faschist werden – (wie) geht das?“ Was ist die Schnittstelle, das Medium, das Narziß und Nazi kompatibel macht? Gibt es einen Grad ästhetischen Gewissens und geistigen Niveaus, der in der Lage ist, gegen Faschismus zu immunisieren? Warum malt der Surrealist Picabia (von der direkten Kollaboration freigesprochen) heroischen Fascho-Kitsch? Wie geraten Künstler von der Erlösungs- in die Zerstörungskonfiguration? Hat sich „der Benn einfach so viel über den Döblin geärgert, daß er schließlich Nazi darüber wurde“ (Klaus Mann, der Benn noch 1931 für „radikal links“ hält)? Wird Hamsun Hitler-Fan aus Haß auf Britannien – die ausbleibenden englischen Ausgaben seiner Bücher? Wird Elvis zum Top-Star der Drogen-Stasi DEA, weil sein Stern in den Charts zu sinken beginnt? Was treibt die Poeten, die Schöpfer von Anmut und Bezauberung, von Kunst-Realitäten und Geistes-Reichen, in die Fänge der Macht? Wird der am Kunstpol schaltende und waltende Dichterkönig in dem Maße Faschist, wie er Journalist wird und sich zum Sprecher, Schalter und Walter der Wirklichkeit aufschwingt? Ist es allein „Ästhetizismus“, der genialische Anspruch einer autonomen totalen Kunst, der anfällig macht für das Totalitäre? Wo liegen die Überschneidungen der ästhetischen Radikalen und der politischen Radikalen? „Warum wird von zwei Genies immer eines Faschist?“ Hat sich Ezra Pound nur geärgert, daß James Joyce mit Genielob überschüttet wurde? Wurde Benn zum „Züchtungsdoktor“ des Realen, weil ihm im Reich des Imaginären die KP- Linke den Genie-Rang streitig machte? Wie kommt, wenn der Dichter verbraucht und kein Stoff in Reichweite ist, der Tyrann hervor? Leistet das Radio Geburtshilfe, indem es der ermatteten poetischen Stimme zu ungeahnten Reichweiten verhilft? Läßt das Bewußtsein, „auf Sendung zu sein“, das Sendungsbewußtsein in Erlösungswahn, den Kunstanspruch in Realisierungswut umschlagen? Steht die technische „Verstärkung“ des Worts (Radio & Tonfilm) in einer Genealogie des Totalitären? Arbeitet das neue Sprechwerkzeug, die Äther-Droge Radio, mit an den Gedanken?

Rauschdoktor auf dem Machtrauschtrip

Wird die Nazi-Power erst geschaffen durch die neuen Äther-Verbindungen? Ist es der Äther, der den psychedelischen Rauschdoktor auf den faschistischen Machttrip bringt? „Die Trance, daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe, hat mich nie verlassen“, schreibt Benn – warum aber verläßt er den Trance- Pol 1932/33, um den wirklichen Hitler als wahren Führer-Priester auszurufen? Warum plädiert Gertrude Stein dafür, Adolf den Friedensnobelpreis zuzuerkennen? „Walt Whitman hat einmal geschrieben, daß er keine Kunst wolle, die Präsidentschaftswahlen entscheiden könne, er wolle eine Kunst, die sie belanglos mache“ – warum begeben sich Kunst-Könige, die das mit allen Ausrufezeichen unterschreiben, – die Benns, Hamsuns, Célines, Steins, Presleys – plötzlich so höllentief unter ihr Niveau? Genügen ein großer Publikationsort (Geld und/oder Geltungs-Sucht) plus ein historischer Moment („Die Geschichte spricht!“) um halbwegs vernünftige Künstler-Intellektuelle in komplette Idioten zu verwandeln? Was verwandelt den Barden Biermann in einen Lynch-Inquisitor, der Saddams Raketen-Ingenieure „aufgehängt sehen“ will? Warum gerät ein medienmäßig abgeklärter Kopf wie Enzensberger so außer Fassung, daß er einen Regionaldiktator von CIAs Gnaden zum „neuen Hitler“ aufpuscht (und das eigentlich Faschistoide des Golfkriegs – den Medien- und Telespielcharakter – ignoriert)? Was bringt einen Reich-Ranicki dazu, nach dem Fall der Mauer ungefragt Stalinisten zu jagen? („Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche?“) Ein Problem der sog. Charakterstruktur begabter Leute mit „brachliegendem Erlöserwissen“? Wäre aus Hitler ein Hit geworden, wenn wir ihn als Künstler hätten durchgehen lassen? Wird einer Nazi, weil ihn die Kunstakademie nicht annimmt? Werden Kids Faschos aus Langeweile? Wurde Elvis zum Drogenspitzel aus Depression? Oder weil Böcke seit je besonders scharf sind auf den Gärtnerjob? Verrät einer die Kunst an die Staatsmacht, um das Niveau zu halten? Ist Elvis' „Verrat ein Aufbäumen gegen den Acid-Rock“? Benns Überlaufen zu den Nazis Kritik des „parteilichen Schreibens“? Wie gekränkt, wie eitel, einsam und liebesleer muß ein Künstler-König sein, daß er Macht als Rettungspol sieht? Hätte Benn, wäre er als genialer Reim-Maschinist gewürdigt (und bezahlt) worden, auch nur im Traum daran gedacht, als Radio-Faschist journalistisch tätig zu werden? Läßt ein Botho Strauß sein elitaristisches Gestöhn nur ab, weil es in der Kunst statt zum Königsstatus nur zur Prinzenrolle gereicht hat? Was unterscheidet die Idee des „Gesamtkunstwerks“ von der des „totalen Staats“? Wagner ... Hitler ... Warhol ... Beuys? Warum muten sich ausgerechnet die neurotischen Außenseiter, die inspirierten Artisten, in historischen Momenten die völlig ungeeignete Rolle des Sprechers für die Gesellschaft zu? Kommt der Faschismus von den Ekstatikern, „den Drogennehmern, und zwar meist von denen, die damit nicht umgehen können. Mit denen geht es dann um ...“ (Wolfgang Neuss)? Müssen wir, um den Faschismus zu überwinden, uns nur alle, einzeln und gemeinsam, beherrschen lernen? Wo bitte geht's hier zur Ekstaseschule? Wäre Anti-Nazi-Narkose mit LSD der kürzeste und einfachste Weg? Hat nicht sogar der gestählte Panzer des Fascho-Fossils Ernst Jünger schon nach einer Therapiesitzung bei Dr. Hofmann schwere Risse gezeigt? All You Need Is LOVE?

Tote Frauen, lebende Tyrannen

Fragen, die einem so kommen, beim Lesen des Mammut-Essays von Klaus Theweleit – und die grob umreißen, worum es in diesem zweiten „Buch der Könige“ geht. Das erste, „Orpheus (und) Eurydike“ (1988) behandelte die Voraussetzungen der Kunstproduktion: die Frauen, deren Abstieg in den Tod den Künstlern erst den Anschluß an höhere Sphären gewährt. Das zweite nun schildert den Fall der dank ihres Jenseitsdrahts aufgestiegenen Könige: was auf dem Rücken toter Frauen begann, endet Seit an Seit mit lebenden Tyrannen. Was heißt endet – noch stehen laut Editionsplan zwei weitere „Königs“-Bücher ins Haus. Wir dürfen also weiter gespannt sein – was nach 1.700 Seiten durchaus ungewöhnlich ist. Aber das ging mir schon bei Theweleits mittlerweile weltberühmten „Männerphantasien“ so: so ein dickes, materialreiches Buch – und doch fiebert man auf die Fortsetzung wie bei einem Taschenkrimi. Das hat sicher mit Theweleits Schreibe, jener Mischung aus Biographie, Kriminalbericht, Psychohistorie und Geschichtsschreibung zu tun: die mit Akribie bis ins Detail recherchierten Phänotypen spiegeln die Seelenlage einer ganzen Epoche. Warum Geschichte sachlich erzählen, wenn's persönlich geht?

Klaus Theweleit: „Buch der Könige 2“. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main. Teilband X (976 Seiten), Teilband Y (844 Seiten), je 99 Mark. Beide zusammen im Schuber 148 Mark.