Besuch in einer stillen Stadt

Jaffna im Norden Sri Lankas ist in der Hand der LTTE / Nur einige Soldatinnen sind als ihre Mitglieder zu erkennen – die Organisation regiert lieber aus dem Untergrund  ■ Aus Jaffna Bernard Imhasly

„Point Pedro“ ist eine verkehrstechnische Katastrophe. Es ist der einzig sichere Übergang in das von Inseln umsäumte und von Regierungstruppen umzingelte Jaffna. Um ihn zu erreichen, geht es zunächst mit einer Militärmaschine aus der srilankischen Hauptstadt Colombo nach Palali, dem alleinigen Luftstützpunkt der Sri Lanka Air Force an der Nordspitze der Jaffna-Halbinsel. Von dort weiter mit Armeefahrzeugen durch einen Wald verkohlter Palmenstümpfe und Häuserruinen nach Kankesanthurai, das im Volksmund „KKS“ heißt. Die stillgelegte Zementfabrik und der Umschlaghafen des Ortes werden heute von der Marine besetzt. Diese läßt uns erst einmal tagelang „ausruhen“ und verfrachtet uns dann mit einem Kanonenboot zu einem Getreideschiff, das jede Nacht zwei Meilen vor der Küste ankert.

Die Regierung hat das Boot gemietet, um Lebensmittel nach Jaffna zu bringen. Es fährt jeden Morgen nach Point Pedro, um dort seine Fracht zu löschen. Bei Sonnenuntergang aber dampft das Schiff zwei Stunden zurück zum Marinehafen, denn in der Nacht zielt das srilankische Militär auf alles, was sich bewegt. Unterwegs passiert es Velvettiturai, den Geburtsort der „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) und ihres Führers Vellupillai Prabhakaran.

Point Pedro hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem ehemaligen deutschen Namensverwandten „Checkpoint Charlie“. Statt Wachtürmen ruft es vom Schiff aus eher die Illusion eines Ferienparadieses hervor, mit Leuchtturm, Palmenstrand und tiefblauem Wasser. Doch die alten Fischerhütten mit ihrer pittoresken Patina entpuppen sich beim Näherkommen als zerschossene Häuserreste, und die Fata Morgana endet endgültig mit der Flagge des Internationalen Roten Kreuzes, deren Weiß-Rot an Krieg statt an sein Gegenteil denken läßt. Schon zuvor wurde man darauf eingestimmt, daß hinter der Tropenkulisse irgendwo in diesem Karussell von Fahrzeugwechseln eine Kriegsfront überschritten wird: Auf dem Flugfeld von Palali werden die ankommenden Passagiere von einer Truppe Soldaten empfangen, die lachend auf das soeben gelandete Flugzeug zueilen, das sie in den Urlaub nach Colombo bringen soll. Selbst zwei Bahrenträger kommen fröhlich im Laufschritt daher, so daß die in weißes Tuch eingewickelte Leiche gefährlich hin- und herschwankt, als ob auch sie sich vor Lachen schüttelte. Später erfahre ich, daß der Tote ein Soldat war, der in einem Anfall von Depression Selbstmord begangen hat. Ich erinnere mich an den Ausspruch eines Freundes in Colombo: „Während die Tamil-Tiger auf eine Zyankalikapsel beißen, um sich im Kampf nicht ergeben zu müssen, erschießen sich singhalesische Soldaten bereits vor dem Kampf.“

Der Nimbus der Tamil-Tiger steigert sich noch im Verlauf des Frontwechsels: Das Kanonenboot fährt beim Auslaufen aus KKS an einem umgestürzten Schiffswrack vorbei, dessen Bauch seitlich aus dem Wasser ragt. Ein Kommando der „Sea Tigers“ habe das Schiff im September in einer Suizid-Aktion gesprengt, kommentiert der begleitende Offizier emotionslos. Der Rotkreuzvertreter an Bord soll die Neutralität des Getreideschiffs sichern helfen. Vor einem Monat war der ebenfalls gecharterte „Ocean Trader“ von einer Mine der Tamil Tiger versenkt worden – er war ohne die weiße IKRK-Fahne unterwegs gewesen.

Der erste Kontakt mit den gefürchteten Guerillas ist dann allerdings beinahe eine Antiklimax: Zwei freundliche Zivilisten im Studentenalter, die in einem Lagerschuppen von Point Pedro Visa für „Tamil Eelam“ – Tamilische Heimat – ausstellen. Selbst die Polizistinnen in ihren raubtierartig gestreiften Kampfuniformen haben so kindliche Gesichter, daß ihr Stirnrunzeln und die in die Seiten gestemmten Ellbogen wie chargiertes Schülertheater aussehen; doch die AK47, die sie nachlässig über die Schulter geworfen haben, sind echt. „Wissen Sie, warum die Tiger-Girls ihre Zöpfe zu Schnecken auf den Hinterkopf gebunden haben?“ fragt mich später ein Zivilist in Jaffna. „Damit das Gewehr bei Bedarf rasch im Anschlag ist und sich nicht mit dem Haar verknäult.“

Was wie eine Reise in einen totalitären Kinderstaat beginnt, bleibt bei einer der wenigen direkten Begegnungen mit der Guerilla. In Jaffna sind die uniformierten Tiger, mit Ausnahme der großen Porträts von „Eelam-Märtyrern“ an jeder Straßenecke, wie vom Erdboden verschwunden. Statt wie andere Befreiungsorganisationen jede taschentuchgroße Eroberung sofort mit Fahnen zu versehen und mit revolutionären Graffiti zu bepinseln, hat die LTTE ihr Territorium scheinbar in seiner kleinbürgerlichen Schläfrigkeit belassen. Sie zieht es vor, aus dem Untergrund zu regieren.

Obwohl hier 400.000 Menschen leben, hat Jaffna die Geräusche und die Stille eines Dorfs. Noch zur Mittagszeit hört man in der Ferne einen Hahn krähen, irgendwo quietscht die Seilrolle eines Ziehbrunnens, und der sanfte Meereswind trägt die schimpfende Stimme einer Mutter vom Nachbarhaus herüber. Bereits um sieben Uhr abends ist dunkle Nacht; die flackernden Petroleumleuchten in den Häusern und die tanzenden Irrlichter der Fahrradlampen sind die einzigen Lichtquellen in einer Stadt, die noch immer vom nationalen Elektrizitätsnetz abgeschnitten ist.

Auch tagsüber bewegen sich die Fahrräder lautlos auf den Straßen, nur selten gestört von einem der wenigen Busse oder einem noch selteneren Pkw, meist einem Morris Oxford oder einem uralten Peugeot 203. Raviraja, der eines der wenigen Dreiradtaxis fährt, erklärt mir, warum so wenige Autos unterwegs sind: Ein Liter Kerosin kostet einen halben Tageslohn; deshalb muß das Kerosin mit Nahrungsmittelöl zu „Diesel“ gestreckt werden. Damit der Motor dann überhaupt noch anspringt, trägt jeder motorisierte Einwohner ein kleines Fläschchen bei sich: Verdünner, von dem einige Tropfen, auf den Vergaser geträufelt, genügen, um den Motor zu zünden, der dann geduldig mit dem Fusel weiterläuft.

Das Spital von Jaffna, ein großer Gebäudekomplex mit tausend Betten und eigenem Leichenhaus im Zentrum der Stadt, braucht keine Verkehrsschilder, die zur Stille mahnen. Dafür sind seine Mauern mit den Farben des IKRK bemalt. Das Rote Kreuz hat von den zwei Kriegsparteien die Garantie erzwungen, Spital und das umliegende Quartier als safe area zu respektieren.

Wer an dieser Sicherheitszone vorbei gegen die Lagune von Jaffna spaziert, sieht plötzlich, warum eine derartige Garantie nötig ist. Und unwillkürlich höre ich in der Ruhe der Stadt nicht mehr nur das Schweigen der Motoren, sondern auch die Stille von Gräbern. Der breite Streifen zwischen Lagune und Rotkreuz-Plakaten ist ein einziges Ruinenfeld. Am einen Ende liegt, mit eingestürztem Dach, die Kirche des heiligen Jakob, am anderen Ende die Ruinen des „Dutch Fort“. Dessen alte Mauerüberreste sind inzwischen durch Artilleriefeuer weitgehend eingeebnet. Das Gelände, etwa einen Kilometer breit und zwei Kilometer lang, war Kriegsschauplatz, als die indische „Peacekeeping Force“ die Stadt 1987 eroberte, und dann wieder 1990, als die LTTE die srilankischen Truppen aus dem Fort vertrieb.

Lange Bahnen von zusammengenähten Zementsackhüllen, auf Bambusstangen den Strandweg entlanggezogen, zeigen, daß Bomben auch heute noch ihre Ziele suchen. Es sind drei LTTE-Kämpferinnen, die diesen Abschnitt bewachen. Die Haarzöpfe niedlich zu Schnecken geringelt, öffnen sie dem Besucher in einer Nahtstelle einen kleinen Spalt: keinen Kilometer vom Ufer entfernt zieht die dünne Linie der Insel Mullaitivu einen Strich in die Lagune. „Die schwarzen Flecken sind die Artilleriegeschütze der srilankischen Armee“, sagen die Mädchen trocken. Sie lachen, als sie fotografiert werden sollen, und eine von ihnen zieht verschämt ihr Gewehr vors Gesicht.

Die Soldatinnen sind die einzigen Personen, die in Jaffna ihre LTTE-Mitgliedschaft offen zur Schau tragen. Die Stille der Stadt spiegelt sich in der Unsichtbarkeit der Untergrundorganisation. Doch die Abwesenheit ist absichtsvoll und suggeriert Allgegenwart.

Bei der Rückkehr vom Besuch des holländischen Forts wird mein Chauffeur von den offiziell als Begleiter zugeordneten LTTE-Chargen auf die Seite genommen. Später stellt sich heraus, daß sie ihn verhören: Sie wollen von ihm wissen, wo sich sein Fahrgast aufgehalten und wen er getroffen habe. Am andern Tag wartet vor dem Hotel kein Taxi mehr auf einen der seltenen Gäste. „Die Boys regieren aus dem Hintergrund“, sagt Pater Jayaraja, als er auf den Zwischenfall angesprochen wird. Er ist nur bereit zu sprechen, wenn sein Name im Bericht geändert erscheint. „Sie haben ihre Informanten in Europa, und sie beherrschen auch das Leben hier; nichts geschieht ohne ihren Willen“, sagt er. „Viele Häuser gehören ihnen, die meisten haben sie gepfändet, als die Besitzer nach Colombo oder ins Ausland flohen. Jeder Ladenbesitzer muß ihnen Steuern zahlen, jeder Bankangestellte kann zitiert werden und muß über Transaktionen Auskunft geben. Jeder weiß es – aber niemand sagt es.“

Die Kirche des heiligen Jakob darf wiederaufgebaut werden. Sie wurde im November 1993 in einem Vergeltungsschlag der Luftwaffe schwer beschädigt, nachdem die LTTE wenige Tage zuvor in einem Überraschungsangriff das Militärlager von Pooneryn überrannt hatte und dabei annähernd 600 Soldaten ums Leben kamen.

Im Kirchenflur spielen Kinder mit Kieselsteinen Murmeln, und der Gipskopf des heiligen Jakob liegt abgeschlagen auf der Brust des Jesuskinds, das er auf dem Arm hält. „Die LTTE mischt sich nicht in Glaubenssachen ein und läßt die christliche Minderheit – wir sind etwa zwanzig Prozent in Jaffna – in Ruhe“, meint der Sekretär des Diözese, Father Thavarajasingam. Im Gegensatz zur Kirche darf am Ruinenfeld nichts geändert werden: „Die Ruinen sollen stehenbleiben, um den Haß der Bevölkerung wachzuhalten.“

Dies gilt besonders für die Gebäudehülse der „Jaffna Public Library“. Die Bibliothek steht bereits seit 1981 zerstört da, als sie – und mit ihr zahlreiche Dokumente tamilischer Literatur und Geschichte – einer Brandstiftung zum Opfer fiel. „Wir Tamilen sind sehr bildungsbewußt und stolz auf unsere Sprache“, erklärt Jayaraja. „Für viele ist der Brand der Bibliothek der Beginn der Sezessionsbewegung. Die LTTE macht singhalesische Politiker wie den vor einigen Jahren verstorbenen Exminister Cyril Mathew und Gamini Dissanayake dafür verantwortlich.

Früh am andern Morgen trifft die Nachricht ein, daß ebendieser Dissanayake, Präsidentschaftskandidat der Opposition, in Colombo bei einem Bombenattentat zusammen mit 52 weiteren Anhängern seiner Partei umgekommen ist. Jaya Master, der LTTE-Aufpasser, scheint ebenso betroffen wie die anderen Hotelgäste. Auf die Frage, ob die LTTE dafür verantwortlich sei, macht er Ausflüchte und verschwindet. Zwei Stunden später taucht er wieder auf. „Wir wurden von unserer Führung beauftragt, zu sagen, daß die LTTE nichts mit dem Attentat zu tun habe“, sagt er kompliziert – oder subtil? – in indirekter Rede.

Die LTTE hat es plötzlich eilig, ihre Gäste wieder über die Front zurückzuschieben. Der Plan, die beiden einzigen öffentlichen Machtzentren der LTTE – das Gericht und die Visaabteilung für Reisen aus Jaffna – zu besuchen, kommt nicht mehr zustande. Ein Tamile, der aus Jaffna nach Colombo gekommen war, hatte mich auf das „Paßbüro“ aufmerksam gemacht, in dem nach seinem Bericht zwischen drei Kategorien von Personen unterschieden werde. Er selbst hatte zwei Tage angestanden, weil er der dritten Sorte zugehörte, den normalen Leuten. Und von seiner Schlange aus konnte er zuschauen, wie schnell die Abfertigung in den anderen zwei Reihen vor sich ging: Schalter zwei, reserviert für „LTTE-Kämpfer“, konnte bereits am Mittag schließen, und beim ersten Schalter, für die Familien von „Eelam-Märtyrern“, war die Behandlung noch zuvorkommender. „In England haben sie das Sprichwort: Wenn du sehen willst, mit was für einer Gesellschaft du's zu tun hast, schau, wie die Leute Schlange stehen.“