: In aller Bescheidenheit „great“
Andre Agassi ist zwar nicht Weltmeister – aber so zufrieden mit einem bemerkenswerten Jahr, daß er sich nun eine Pause gönnt ■ Von K.-P. Klingelschmitt
Frankfurt/Main – Das von vielen Experten prognostizierte WM– „Traumfinale“ zwischen Boris Becker und Andre Agassi fand gestern nicht statt. Während Becker am Sonnabend sein Halbfinalspiel gegen den Katalanen Sergi Bruguera in einem unglaublichen Kraftakt in drei Sätzen gewann, verlor Agassi sein Halbfinalmatch gegen die „coole Gurke“ (Connors) Pete Sampras: Womit der Bart ab war. Nach dem „joke“ (Agassi) auf dem Court kam er tatsächlich glattrasiert zur Pressekonferenz – doch dafür mit Haaren auf den Zähnen: „Ich werde Rudolf Berger eine Weihnachtskarte schicken, wenn er verspricht, nie wieder ein Tennisspiel zu leiten, bei dem ich mit von der Partie bin.“
Agassi fühlte sich vom deutschen Schiedsrichter verschaukelt, da der im Verlauf der Begegnung zweimal Entscheidungen der schwachen Linienrichter korrigiert hatte – jeweils zum Nachteil von Andre Agassi: „Der sitzt einfach da oben auf seinem Stühlchen. Und auf mir lastet der ganze Druck.“ Agassi ließ zum Abschied ordentlich Dampf ab. Verständlich: die verbalen Auseinandersetzungen mit Berger hatten ihn möglicherweise tatsächlich um den Sieg gegen Sampras gebracht. Er habe Sampras nach der ganzen Aufregung ein paar „mentale Geschenke“ gemacht, was die Nummer eins „gnadenlos“ ausgenutzt habe.
Dennoch: Sein „bestes Tennis“ (Agassi) habe er gegen Sampras und auch schon im letzten Vorrundenspiel gegen Michael Chang geboten. Und die knapp 10.000 ZuschauerInnen in der Festhalle dankten es ihm mit stehenden Ovationen. Dabei hätte noch vor einem Jahr keiner mehr auch nur einen Pfifferling auf den bis dato Stoppelbärtigen gesetzt, der lieber mit Barbra Streisand und später mit Brooke Shields durch die Nachtclubs von Las Vegas und New York zu ziehen schien, als sich auf dem Court zu quälen. Der Exzentriker war auf Platz 32 der Weltrangliste abgerutscht und galt als „Absteiger“ der Saison. Doch nachdem Agassi im Februar selbstkritisch den Schleifer und Buchautoren Brad Gilbert („Winning ugly“) zum Trainer bestellt hatte, meldete er sich umgehend mit einem Sieg beim ATP-Turnier in Scottsdale zurück. Danach ging alles wieder schnell bergauf: Sieg in Toronto (Kanada) bei einem Wohltätigkeitsturnier für Aids- Kranke und Sieg beim Grand- Slam-Turnier in New York. Die Tenniswelt hatte den verloren geglaubten Sohn wieder. Und die Fans feierten „ihren“ Agassi überall auf dem Globus frenetisch: In Atlanta, in Los Angeles, in Wien, in Stockholm – und in diesen Tagen auch in Frankfurt am Main. Schließlich hat kein anderer Tennisspieler vor ihm binnen eines einzigen Jahres von einem hinteren Weltranglistenplatz aus das gesamte Feld aufgerollt, um am Jahresende als Nummer zwei dazustehen.
„Great“ ist das, das findet selbst Agassi in aller Bescheidenheit. Noch „greater“ wäre es allerdings gewesen, hätte er auch noch, wie geplant, das Finale erreicht – am liebsten, versteht sich, gegen Boris Becker. Doch Trauer muß Agassi deswegen nicht tragen. Coach Gilbert läßt mitteilen, daß allein seine langen Haare gut fünf Millionen Dollar wert seien, weil die Medien und die Mädchen „darauf stehen“ würden. Das ist beruhigend, da kann man entspannt den Zukunftsplan angehen, der diese Woche beginnt und für die nächste Zeit als Hauptpunkt „amüsieren“ vorsieht. Ein Start beim Grand- Slam-Cup in München stünde dem entgegen und ist ökonomisch nicht zwingend: „Ich werde nicht sterben müssen“, sagt Agassi entspannt, „wenn ich die dort ausgeschrieben 1,6 Millionen Dollar nicht verdiene.“ Zum Racket wird er erst wieder greifen, wenn im Januar die Australian Open auf dem ATP-Tourprogramm stehen. So ist das: Agassi hatte gesprochen, kratzte sich noch einmal am ungewohnt glatten Kinn, grinste spitzbübisch, verschwand in den Katakomben der Festhalle.
Zurück kam Sonntag also nicht mehr er, wohl aber Kumpel Becker, der am Tag zuvor gutgelaunt geblieben war, obwohl Halbfinalgegner Sergi Bruguera ihm alles, „und noch ein bißchen mehr“ (Becker) abverlangt hatte. Und hätte der Sandplatzspezialist im zweiten Satz seine Nerven immer unter Kontrolle gehabt, „uns“ Boris hätte bereits mit seinem „Freund“ Agassi ein Bier trinken gehen können. Andererseits lieferte Becker den Beweis dafür ab, daß er nicht nur ein „big hitter“ (wie Ivanisevic) ist, sondern auch ein geduldiger Grundlinienspieler sein kann. Erst nach hart erkämpftem zweiten Satz (6:4) war der Widerstand des Spaniers gebrochen.
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