piwik no script img

In einem Zustand der Panik und des Schocks

■ Über 150.000 Menschen - Einwohner, Flüchtlinge und UN-Soldaten - waren der serbischen Artillerie in Biha ausgeliefert, während UNO und Nato über Gegenmaßnahmen berieten. Informationen gelangten..

Über 150.000 Menschen – Einwohner, Flüchtlinge und UN-Soldaten – waren der serbischen Artillerie in Bihać ausgeliefert, während UNO und Nato über Gegenmaßnahmen berieten. Informationen gelangten nur über Funk nach außen.

In einem Zustand der Panik und des Schocks

Nur vereinzelt dringen verzweifelte Hilferufe aus der von bosnischen Serben belagerten Stadt Bihać nach draußen. Informationen über die Lage der Bevölkerung gelangen gelegentlich über Funktelefone oder Amateurfunker an die internationale Öffentlichkeit. Angaben über die Situation in der Stadt vermittelte gestern das Büro des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten Stefan Schwarz, das am Mittwoch abend ein Gespräch mit dem Bürgermeister von Bihać, Hamdija Kabiljagić, führen konnte. „Wir werden mit Granaten zugeschüttet“, beschrieb dieser die Situation der eingeschlossenen Menschen. Die Truppen der Angreifer seien von Westen her in das Stadtzentrum vorgestoßen und stünden bereits 150 Meter vom Bezirkskrankenhaus entfernt, das westlich des Flusses Una liegt. Vier Stadtviertal seien schwer umkämpft.

Der Bürgermeister sprach von 32.000 angreifenden serbischen Soldaten, die offenbar die Bevölkerung aus dem Westen der Stadt über die Una in den Ostteil treiben wollten [in anderen Quellen ist von 18.000 serbischen Soldaten die Rede; d.Red.]. Flüchtlinge aus der Umgegend strömten in das „Innere des Bezirks“, so Kabiljagić. Die insgesamt etwa 150.000 bis 200.000 Menschen hätten keine Möglichkeit, zu entkommen.

Der Amateurfunker Mirza Sadiković, der kurzzeitig per Funk nach Sarajevo durchkam, sagte, die Straßen von Bihać seien gespenstisch leer, weil die Menschen in Bunkern und Kellern Zuflucht gesucht hätten. Vereinzelt hetzten Flüchtlinge aus den umliegenden Ortschaften von Hauswand zu Hauswand, um irgendwo einen sicheren Ort zu finden, den es aber kaum noch gebe.

UNO-Vertreter in der kroatischen Hauptstadt Zagreb berichteten am Mittwoch abend, etwa 5.000 Menschen, meist Frauen und Kinder, hätten in den letzten 24 Stunden ihre brennenden Dörfer im Umkreis verlassen und in der belagerten Stadt Zuflucht gesucht. 3.000 weitere seien nach Norden gelangt. Fernando del Mundo, ein Sprecher des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, erklärte: „Sie sind in einem Zustand der Panik und des Schocks.“

In einem Fax, das vom Büro Schwarz' verbreitet wird, beschreibt Chefchirurg Santić die Situation im Bezirkskrankenhaus von Bihać: „In den letzten drei Tagen wurden 352 Verletzte eingeliefert. Darunter waren 75 Kinder. Dem sechsjährigen Mädchen Sanela wurden ein Arm und ein Bein durch eine Granate weggerissen. Ein Sanitäter wurde, während er Schwerverletzten helfen wollte, von einer Granate verstümmelt. Heute [Mittwoch; d.Red.] wurden im Zeitraum von 7 bis 15 Uhr 70 Schwerverletzte eingeliefert.“

Die Zahlen beziehen sich ausschließlich auf das Bezirkskrankenhaus. Die Anzahl der Verletzten wird also noch höher liegen. Aus der städtischen Poliklinik und den neun Ambulanzstationen liegen keine Angaben vor.

Santić wies darauf hin, daß grundlegende Medikamente fehlten, um die Verwundeten zu behandeln. Krankenhausdirektor Bekir Tatlić gab an, daß die Klinik seit drei Monaten keine humanitäre Hilfe mehr erhalten habe. Es stünden lediglich zwei Beatmungsgeräte zur Verfügung. Strom habe es bislang drei bis vier Stunden täglich gegeben.

Über die allgemeine Versorgungslage berichtet Bürgermeister Kabiljagić, die für die Bihać-Enklave zuständige UNHCR-Mitarbeiterin habe ihm gesagt, daß nicht einmal für ihre eigenen Mitarbeiter genügend Lebensmittel zur Verfügung stünden. „70 Gramm Reis pro Kopf und Tag waren bisher die Lebensgrundlage der Bevölkerung“, so Kabiljagić, „das reicht nicht mal für eine Taube.“

Die im Bezirk Bihać stationierten 1.127 Blauhelm-Soldaten aus Bangladesch sind den Verteidigern der Stadt, dem 5. Corps der bosnischen Regierungstruppen, keine große Hilfe. Sie gelten als die am schlechtesten ausgebildete und bezahlte UNO-Einheit. Sie waren nur im Schnellverfahren für den Bosnien-Einsatz vorbereitet worden und finden sich jetzt am derzeit gefährlichsten Ort wieder. Vier Soldaten teilen sich ein Gewehr. In Bihać selbst sind 300 der Blauhelme stationiert, die mit leichten Waffen ausgerüstet sind. Über Panzer und andere schwere Waffen verfügt die Einheit nicht. Laut Kabiljagić werden die UNO-Soldaten von der Bevölkerung mitversorgt. Inzwischen hat die Regierung von Bangladesch an die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates appelliert, alles zu tun, um die Sicherheit der Blauhelme in der bedrohten Region zu gewährleisten.

„Ich hoffe, daß die Welt das, was hier passiert, wahrnimmt“, erklärte Kabiljagić in einem weiteren Gespräch, daß er per Funktelefon mit der Nachrichtenagentur AP führte. „Die Welt sollte uns im Namen von Demokratie und Menschlichkeit zu Hilfe kommen. Etwas muß getan werden, um dieses kleine Europa in Bihać zu retten.“ Beate Seel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen