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Neue Konzepte statt Pflichtübungen

Gegen die Tendenz des Relativierens, Verdrängens und Vergessen-Wollens: Strategien gegen Rechts und das gegenwärtige graue Klima im vereinten Deutschland  ■ Von Ralf Melzer

Zu informieren und zu sensibilisieren war das Ziel der internationalen Jugendtagung „Unite & Act“ über Rassismus und Antisemitismus in Europa, die vom 23. bis 30. Oktober in Berlin stattfand. Veranstaltet wurde das Seminar von der B'nai B'rith Youth Organization, der mit rund 25.000 Mitgliedern weltweit größten jüdischen Jugendorganisation. Zu den Ergebnissen der einwöchigen Veranstaltungsreihe zählt, daß neue pädagogische Konzepte in und außerhalb der Schule gefordert sind. Diese müssen darauf abzielen, einen persönlichen Bezug zur deutschen Vergangenheit herzustellen. Daß heute Jugendliche in der Schule nicht selten gelangweilt abwinken, wenn die nationalsozialistische Judenverfolgung behandelt wird, und noch dazu oft sehr wenig über das Thema wissen, ist jedenfalls ein beängstigender Befund.

Gleichermaßen zu denken gibt das Beispiel einer 16jährigen Berliner Gymnasiastin, die in ihrer gesamten Schullaufbahn Nationalsozialismus und Shoah noch nie im Unterricht behandelt hat. Nun ist dieser Fall sicher eher die Ausnahme, und man kann den Schulen (zumindest in Westdeutschland) eigentlich nicht vorwerfen, sie würden sich zu wenig mit der NS-Vergangenheit beschäftigen. Nur kommt es eben auf das Wie an: Bloße Pflichtübungen reichen nicht.

Ebenso gilt das für die Justiz, die ihren Teil dazu beitragen kann, den Eindruck zu verhindern, rassistisch motivierte Verbrechen träfen auf gesellschaftliche Akzeptanz oder würden als Kavaliersdelikte behandelt. Mit Bewährungsstrafen für Gedenkstättenschändung funktioniert das allerdings nicht, von dem „Deckert-Urteil“ ganz zu schweigen, welches einmal mehr gezeigt hat, daß nationalsozialistisches Gedankengut im Richterstand eben leider kein Problem alter, längst vergangener Zeiten ist.

Die notwendige Offensive gegen Rassismus und Antisemitismus muß in erster Linie öffentliches Bewußtsein verändern: Kaum eine Politikerrede und kaum eine Stammtischrunde zur Zeit ohne „Extremismus“-Ansatz, ohne Gleichsetzung von rechts und links, von Drittem Reich und DDR: Honi gleich Hitler als Entlastungsventil. Der Geist der „Neuen Wache“ ist allgegenwärtig. In Deutschland gedenkt man „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“, nicht den Opfern von deutschem Rassenwahn und Lebensraumideologie. Was dabei herauskommt, sind Opfer, die ein bißchen weniger Opfer, und Täter, die ebenfalls ein bißchen Opfer sind.

Auch als dieser Tage endlich die nationalsozialistische „Wiking-Jugend“ verboten wurde, beeilte sich der Bundesinnenminister, wieder einmal hinzuzufügen, der demokratische Rechtsstaat müsse sich „wehrhaft“ zeigen gegen Extremismus „von rechts“ und natürlich nicht zu vergessen „von links“.

Nicht zuletzt im wissenschaftlichen Bereich hat die Koalition aus Anhängern der Totalitarismustheorie, aus Relativierern wie Nolte und Modernisierungstheoretikern à la Zitelmann, welcher die angeblichen sozialen Errungenschaften des Nationalsozialismus preist, längst Oberwasser. Die kritische Faschismusforschung, die vergleichende zumal, ist in der Defensive. Und das antisemitische Gift – nicht nur von strammen Revisionisten, sondern auch von sogenannten seriösen Historikern, Politikern und von Zeitungen wie Welt oder FAZ mehr oder weniger fein dosiert versprüht – verfehlt seine Wirkung nicht. Warnungen vor dem Verharmlosen der Shoah oder der Hinweis von Ignatz Bubis, daß es den 9. November 1989 ohne den des Jahres 1938 nicht bedurft hätte, drohen unterzugehen in einer (Medien-)Gesellschaft, die sich in Sachen Mauerfall und Vereinigungsbefindlichkeit bis zum Erbrechen ergeht, beim Erinnern an die Pogromnacht von 1938 aber schwertut. Aus solchem Klima heraus hat es jede Strategie gegen alte und neue Nazis, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit schwer.

Der Umgang mit dem Völkermord an den Juden – das jedenfalls zeigen Gespräche mit Jugendlichen – erweist sich nicht nur als ein Problem des persönlichen Bezuges, sondern auch als eines der Anschaulichkeit. Vor diesem Hintergrund ist im übrigen die Bedeutung eines Filmes wie „Schindlers Liste“ zu sehen: Der Einwand, der Film fixiere das Bewußtsein vom Holocaust, läßt sich nämlich auch umdrehen: Immerhin fixiert er dieses Bewußtsein bei Leuten, denen das Thema vorher vielleicht herzlich gleichgültig gewesen ist. Außerdem scheint es angesichts fortdauernder rassistischer Übergriffe in Deutschland zumindest einmal den Versuch wert, den Opfern des Völkermords Gesichter zu geben.

Was nun Strategien angeht, so fangen die bekanntlich bei der richtigen Fragestellung an. Und hier bot die „Unite & Act“-Tagung eine ganze Reihe von Anhaltspunkten:

Rassismus und Antisemitismus – das heißt rechtsradikales Gedankengut – sind weder ein Randgruppen- noch ein Extremismus-Problem. Genausowenig taugt es, die Auseinandersetzung mit der Rechten unter dem Gesichtspunkt „Gewalt“ zu führen und damit zu verwässern. Denn zum einen wird auf diese Weise die Perspektive auf das gewalttätig-militante Spektrum des Rechtsradikalismus verengt. Zum anderen schwingen beim deutschen Gewaltdiskurs auch immer irgendwie die Eierwürfe Autonomer auf Helmut Kohl mit, und um die geht es eben gerade nicht.

Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit müssen abgebaut werden. Soviel ist klar. Gelingen wird das letztlich nur dann, wenn Staatsbürgerschaft nicht länger von Herkunft abhängig gemacht wird und die Politik Rahmenbedingungen schafft, die Einwanderern Gleichberechtigung gewähren statt eines Sonderstatus, den sie, so die Schöneberger Ausländerbeauftragte Emine Demirbüken, nicht haben wollen.

Mehr Verständnis und Toleranz entstehen aus persönlichen Erfahrungen: (Schul-)Partnerschaften und Austausch-Reisen können eine Menge dazu beitragen. Und die nicht eben neue Forderung, jede Schülerin und jeder Schüler sollte einmal Auschwitz besuchen, hat nichts von ihrer Richtigkeit verloren – aller „Gedenkstätten- Tourismus“-Polemik eines Henryk M. Broder zum Trotz. Nachahmenswert im pädagogischen Sektor erscheint nicht zuletzt der von der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz praktizierte Ansatz, neben der Jugendarbeit in Seminaren mit Angehörigen verschiedener Berufsgruppen aufzuarbeiten, welche Rolle ihr jeweils eigener Berufsstand spielte im Räderwerk der Vernichtung.

Eine aktuelle politische Herausforderung schließlich ist die zunehmende technische Aufrüstung und internationale Vernetzung des Neonazismus. Auch dem muß Antifa-Arbeit Rechnung tragen.

Wenn es aber überhaupt so etwas gibt wie ein „Gesamtkonzept“ gegen Rassismus und Antisemitismus, dann kann das nur heißen, ein breites öffentliches Bewußtsein zu schaffen: und zwar von der Notwendigkeit, sich gegen die Tendenz des Relativierens, des Verdrängens und Vergessen-Wollens zu stellen. Denn so wichtig sie waren, die vielen spontanen Zeichen der Trauer, Wut und Solidarität nach den Brandanschlägen von Mölln, Solingen, Lübeck oder Sachsenhausen – wichtiger noch ist, daß aus diesen und ähnlichen Ereignissen grundsätzliche Konsequenzen gezogen werden.

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