: Die Langlebigkeit des Genossen Deng ...
Chinas graue Eminenz und mächtigster Politiker, Deng Xiaoping, wird, so wollen es die immer dringlicheren Gerüchte in China, bald zu Marx gehen. Offiziell ist der Neunzigjährige längst von der politischen Bühne abgetreten. ■ Aus Hongkong Ruth Bridge
Plötzlich hatte Deng Xiaoping erkannt, daß er bald sterben würde. Doch er fühlte, daß seine Hinterlassenschaft, die Reform der chinesischen Wirtschaft, in Gefahr war. So schleppte er sich Anfang 1992 noch einmal auf den Pfad der politischen Kampagne – zur letzten Offensive. Und obwohl er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 9. Februar dieses Jahres, dem chinesischen Neujahrsfest, offenkundig hinfällig und geistig weggetreten wirkte, wird die offizielle Propaganda nicht müde kundzutun, daß der Neunzigjährige immer noch seinen Finger am Puls der chinesischen Politik hat.
Allerdings lebt er so streng bewacht hinter den hohen Mauern seiner Residenz, die versteckt in einer Allee nahe der Verbotenen Stadt liegt, daß kaum jemand außerhalb seines engsten Zirkels weiß, ob das wahr ist. Kurz nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz vom Juni 1989 hatte Deng Xiaoping alle offiziellen Posten abgegeben und nur das Amt als Ehrenvorsitzender der Bridge- Vereinigung behalten. Dennoch war es klar, daß er nicht wirklich zurückgetreten war: „Die Gesundheit und Langlebigkeit des Genossen Deng“, sagte KP-Chef Jiang Zemin in einer Rede im November 1989, „ist für die reibungslose Entwicklung der Arbeit unserer Partei und des Landes von höchster Bedeutung.“
Jetzt mehren sich die Gerüchte, daß Deng in die letzte Runde gegangen ist. Und die Tatsache, daß das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in seiner letzten Sitzung im September keine wichtigen politischen Entscheidungen gefällt hat und die Aufrufe zur Einigkeit immer dringender werden, scheint all jene Beobachter zu bestätigen, die glauben, daß der Machtkampf um die Nachfolge des alten Mannes hinter den Kulissen tobt. „Eure Einigkeit ist sehr groß“, habe die Botschaft gelautet, die Deng der ZK-Konferenz übermittelte, wo jene politischen Führer zusammenkamen, die an der Spitze der 54 Millionen Mitglieder umfassenden Partei stehen. „Ich bin jetzt beruhigt.“
Ebenso wie der Vorsitzende Mao in seinen letzten Jahren von rivalisierenden Fraktionen der Partei benutzt wurde, ist es möglich, daß das Wiederauftauchen Dengs im Januar 1992, zweieinhalb Jahre nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung, von seiner Familie und den Reformern in der Partei inszeniert wurde, die von der wirtschaftlichen und politischen Stagnation alarmiert waren. Damals erschien Deng plötzlich wieder in der Öffentlichkeit und begab sich auf eine Reise ins südchinesische Guangdong, jene Provinz, in der die Reformen Anfang der achtziger Jahre begonnen hatten und wo er während der Kulturrevolution Unterschlupf fand.
Ein Film über seine Reise zeigte, daß er schon damals nur mit großer Mühe sprechen und hören konnte. Aber eine Reihe von Bemerkungen, die er über einen Zeitraum von mehreren Tagen in fast unverständlichen Lauten machte, wurden aufgezeichnet und avancierten später zum geheimen Parteidokument.
Dengs Botschaft hatte zwei Aspekte: Erstens sollten die Leute aufhören, sich darüber Sorgen zu machen, ob bestimmte politische Entscheidungen und Maßnahmen „kapitalistisch“ oder „sozialistisch“ waren. „Sind Wertpapiere und Aktien gut oder schlecht? Sind sie gefährlich, oder sind sie es nicht? Gehören sie zum Kapitalismus? Können sie vom Sozialismus übernommen werden?“ habe Deng gefragt, hieß es. „Wir sollten resolute Experimente machen. Wenn unser Urteil richtig ist, werden wir für ein oder zwei Jahre weitermachen; wenn es falsch ist, korrigieren wir es und halten ein ... Wovor haben wir Angst?“
Zweitens meinte Deng, daß es zwar wichtig sei, „Rechtsabweichlertum“ zu bekämpfen. Wichtiger aber sei der Kampf gegen das „Linksabweichlertum“. Und damit nicht genug der Herausforderung an die Hardliner in der Wirtschaftspolitik: Deng habe sogar gesagt, hieß es, daß die Gegner seiner Reformen ihre Posten verlassen müßten.
Dengs politische Schwäche wurde deutlich, als die Medien des Landes schwiegen und die orthodoxen Kräfte in der Wirtschaftspolitik versuchten, die Nachrichten über Dengs Initiative zu unterdrücken. Erst spät im Februar sickerte die Botschaft Dengs in die Volkszeitung, und erst Mitte März stellte sich das Politbüro selbst hinter Deng.
Dennoch konnte er sich nicht ruhig zurückziehen. Im Mai machte er sich wiederum auf, dieses Mal zu den Hauptstadt Eisen- und Stahlwerken in Peking. Hier, in Bemerkungen, die niemals in den offiziellen Medien auftauchten, kritiserte er Premierminister Li Peng und Staats- und Parteichef Jiang Zemin namentlich und lobte Vizepremierminister Zhu Rongji. Dieser sollte später, als Li Peng krank wurde, die vollständige Kontrolle über die Wirtschaftspolitik der Partei übernehmen.
Im Juni 1992 gab es unbestätigte Informationen, nach denen Deng in den Nordosten des Landes gereist sei, um die Reform der maroden staatlichen Wirtschaftsbetriebe einzufordern, von denen bis zu siebzig Prozent rote Zahlen schrieben.
So abrupt, wie er sie begonnen hatte, beendete Deng darauf seine Reisetätigkeit und kehrte in die Stille und Bequemlichkeit seiner Villa zurück. Möglicherweise aufgrund seiner nachlassenden Gesundheit, vielleicht auch, weil er dachte, er habe getan, was er sich vorgenommen hatte. Berichte über sein privates Leben zeigen einen Deng, der im Kreise seiner Familie lebt in einer Atmosphäre von disziplinierter Einigkeit. Er nehme einfache Mahlzeiten zu sich und reduziere um seiner Gesundheit willen das Trinken und Rauchen. Die offizielle Nachrichtenagentur macht sich große Mühe, alle Berichte zu dementieren, nach denen Deng von einem Tao-Meister behandelt werde, der sich auf die alte Heilkunst des Qigong spezialisiert hat. Solch mystische Medizin ist für einen guten Kommunisten nicht passend. Im Spätsommer 1992 wurde Dengs Frieden noch einmal durch ein schockierendes Ereignis gestört. Sein alter Freund und Verbündeter, Präsident Yang Shangkun, und dessen jüngerer Bruder Yang Baibing wurden beschuldigt, die Machtergreifung im Falle von Dengs Tod vorzubereiten. Offensichtlich reagierte Deng – oder Leute aus seinem engsten Kreis – unverändert skrupellos: Die Yangs wurden gestürzt. Dieser Vorfall wird ihm wieder vor Augen geführt haben, daß er – wie erfolgreich er auch immer bei der Wiederbelebung der Wirtschaft war – es nicht geschafft hatte, einen starken Nachfolger heranzuziehen. Und daß die Bühne für einen Machtkampf vorbereitet war.
Aber im Herbst wurde deutlich, daß sogar Li Peng und Jiang Zemin bereit waren, Dengs Politik zu unterstützen, um ihre eigene Haut zu retten. Beim 14. Parteikongreß im Oktober 1992 wurden die Dengschen Reformen in die Parteiplattform aufgenommen und als „Wunderwaffe“ gepriesen. Offizielle Berichte beschrieben, wie Deng tagelang über den Kongreßbericht gebeugt saß, Änderungen an den Textrand schrieb und im Fernsehen der Verabschiedung des fertiggestellten Artikels applaudierte.
Aber als er am Ende des Kongresses kurz erschien, um sich als Held feiern zu lassen, schlurfte er und starrte leer vor sich hin.
Als Dengs Initiative sich schließlich durchsetzte, belebte sie die Wirtschaft und führte in den folgenden Jahren zu einer zweistelligen Wachstumsrate. 1993 erschien er noch einmal in Shanghai in der Öffentlichkeit, und seine nur noch vom engsten Kreis seiner Begleiter zu verstehenden Äußerungen wurden so interpretiert, daß er zur Vorsicht gemahnt habe. Später hieß es, er habe gemeint, die Wirtschaft sei dabei, sich erneut zu überhitzen, und müsse an die kürzere Leine genommen werden.
„Ich bin jetzt beruhigt“ – diese Feststellung, die Deng Xiaoping kürzlich der Parteiführung übermittelt haben soll, hat hochsymbolischen Charakter. Denn als Mao Tse-tung 1976 starb, konnte sich Hua Guofeng als sein rechtmäßiger Nachfolger durchsetzen: Der große Vorsitzende hatte schließlich gesagt: „Wenn du die Sache in die Hand nimmst, bin ich beruhigt.“ Nicht eine formelle Wahl durch irgendwelche Parteigremien, sondern der Segen des über allem Recht und über allen Institutionen stehenden Mao machte Hua zum legitimen Erben.
Allerdings nahm Deng Xiaoping ihm schon wenige Jahre später die Sache wieder aus der Hand. Jetzt ist es Jiang Zemin, der die Erbschaft übernehmen soll. Offiziell vereinigt er eine unübertroffene Machtfülle als Partei-, Staats- und Militärchef. Das könnte allerdings auch ein Zeichen der Schwäche sein, meinen Beobachter: Solange der Kampf um die Nachfolge unter den alten Männern in der Partei noch nicht entschieden ist, wird Jiang als Kompromißkandidat geduldet. Vielleicht hat Deng, der geschworen hat, er wolle noch die Rückgabe Hongkongs an China 1997 erleben, ja auch seinen letzten Spaß an den Ränken hinter den Kulissen.
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