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Einmal hingeschaut und auf 17 geschätzt

■ Ohne medizinische Kenntnisse wird das Alter von jungen Flüchtlingen geschätzt – mit weitreichenden Folgen

Der junge Tamile hat sich auf eigene Faust von Sri Lanka nach Berlin durchgeschlagen. Laut seiner Geburtsurkunde ist er 15 Jahre alt. Doch in Berlin glaubt man ihm nicht, weil er keinen Paß hat und die Urkunde ohne Foto ist. In einem solchen Fall ist Manfred Mallé, Mitarbeiter der Jugendverwaltung, zuständig. Der Nichtmediziner nimmt den Jungen in Augenschein und schätzt ihn auf 17. Als er wegen seiner Bürgerkriegsverletzungen an der Hüfte operiert werden muß, schätzt die Amtsärztin ihn auf 15.

Der Tamile, von dem kürzlich auf einer Tagung zur Lage minderjähriger Flüchtlinge eine Mitarbeiterin des Jugendamts Mitte berichtete, ist kein Einzelfall. Dabei hat eine derartige Fehlschätzung des Alters für Jugendliche weitreichende Konsequenzen: Unter 16jährige haben Anspruch auf Jugendhilfe, auf einen Platz in dem Treptower Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und damit auf einen Verbleib in Berlin. Ab 16 Jahren kommen sie ins Verteilverfahren für Asylbewerber und werden überwiegend in die neuen Länder verschickt.

Angesichts dieser immensen Bedeutung wird das Verfahren zur Altersfeststellung immer heftiger kritisiert. Denn bei der dubiosen Altersbestimmung werden von den monatlich etwa 150 alleinreisenden Jugendlichen, die behaupten, sie seien unter 16, nur ein Drittel anerkannt. Mehrere Jugendarbeiter berichteten von Jugendlichen, die nach der willkürlichen Altersfeststellung aus Angst vor Abschiebung und Verteilung untergetaucht seien. Daß sie der Schätzung widersprechen könnten, wüßten viele nicht.

Mit „normalem Menschenverstand und Erfahrung“ sei eine Altersschätzung von Jugendlichen verschiedener Ethnien durchaus möglich, vertritt Mallé. „Das Geburtsjahr läßt sich sehr gut ermitteln.“ Oft werde ja auch eine zahnärztliche Untersuchung oder eine Untersuchung der Handwurzel vorgenommen.

Mediziner halten allerdings auch diese für völlig unzureichend. „Nicht einmal für mitteleuropäische Menschen kann man exakte Aussagen treffen“, erklärt Sepp Graessner, Arzt im Behandlungszentrum für Folteropfer. Selbst bei soliden Untersuchungsmethoden müsse man von Schwankungen bis zu zwei Jahren ausgehen. Bei Nichteuropäern, für die oft keine Vergleichsdaten vorlägen, sei die Bestimmung noch schwieriger. Graessner liegen zur Zeit gleich drei Fälle vor, in denen er nach umfangreichen Untersuchungen sicher ist, daß Mallé sich grob verschätzt hat. „Einzelne werden sehr willkürlich zu Erwachsenen gemacht“, konstatiert Graessner, der außerdem die „Perfidität“ der Inaugenscheinnahme betont: „Gerade nach Fluchterfahrungen sehen viele aus wie Greise, wenn sie ankommen. Dem Land Berlin spart Herr Mallé damit jede Menge Geld.“ Der Arzt Eberhard Vorbrodt, Mitglied des Flüchtlingsrats, vermutet hinter der oberflächlichen Feststellung ein „ausländerpolitisches Instrumentarium“. Die beiden Ärzte, Flüchtlingsorganisationen und Mitarbeiter der AWO und beim DRK fordern deshalb, die Altersfeststellung an unabhängige Mediziner zu übertragen. Jeannette Goddar

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