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Europäische Topographien

Mühle, Hafen, Fabrik, Gefängnis, Krankenhaus: Ein Sammelband widmet sich den alltäglichen Orten der Kulturgeschichte  ■ Von Harry Nutt

Ein häufig gebrauchter literarischer Topos kennzeichnet die Mühle als sinnlichen Ort. Nicht selten verdächtigte man die „schöne Müllerin“ der Prostitution, und „zum Mahlen gehen“ war Umschreibung für ein amouröses Zusammentreffen der Töchter des Dorfes mit dem Geliebten. Die Mühle galt darüber hinaus aus sozialer Treffpunkt. Die Bauern brachten ihr Korn zur Mehlverarbeitung und nutzten die Wartezeit zum ausgiebigen Klatsch und Nachrichtentausch. Geschäftstüchtige Müller eröffneten einen Ausschankbetrieb, und vermutlich ist das „Moulin Rouge“ aus solch einer Funktionserweiterung hervorgegangen. Brunnen, Kontor, Laden und Werkstatt erhielten also nicht allein durch ihre jeweilige Funktion spezifische Gestalt.

Der Vergleich europäischer alltäglicher Orte weist bei allen Eigenheiten viele Konstanten auf. Über die Ländergrenzen hinaus waren es vielgestaltige gesellschaftliche Räume, die lange Zeit von den Blicken der Geschichtswissenschaftler allenfalls gestreift wurden. Der von Heinz-Gerhard Haupt herausgegebene Band lädt ein zu 28 Ortsbesichtigungen vor sozialgeschichtlichem Hintergrund. Es ist ein Panoptikum entstanden, das groben Überblick verschafft, ohne das Gespür für die feinen Unterschiede zu betäuben.

Franco Angiolini beispielsweise beschreibt den Hafen nicht allein als Warenumschlagplatz, sondern es entstehen auch Freihäfen der politischen Meinung. Weil der Hafen keine Diskriminierungen und Ausschließungen zulassen kann, ohne seine eigene Funktionstüchtigkeit zu gefährden, wird er zu einem tendenziell offenen sozialen Raum. „In den europäischen Häfen können ideologische und religiöse Gegner, Vertreter politisch und gesellschaftlich fremder, ja verhaßter Systeme an Land gehen und sich ungehindert bewegen, und dies auch in Ländern, die sich in einer zugespitzten Situation am meisten abschotten wollen.“ Kosmopolitismus ist ein markanter Zug aller Hafenstädte.

Neben der dynamischen ökonomischen Entwicklung dirigiert auch die Politik den Strukturwandel der Orte des Alltags, die sich dabei oft als erstaunlich eigensinnig und widerständig entpuppen. Vom 16. bis 18. August 1905 fand im belgischen Lüttich ein internationaler Mittelstandskongreß statt, auf dem über Fragen der Austauschmöglichkeiten im Detailhandel beraten wurde. Zur gleichen Zeit setzten nationale Großmachtphantasien Abgrenzung und Konfrontation als internationales Politikprinzip durch. „Gleichsam unterhalb der nationalen Differenzen bestanden jedoch deutliche Gemeinsamkeiten, die es erlauben, von übernationalen Strukturen in der Welt des Ladens zu sprechen. Werte, wie Familienorientierung, Lokalpatriotismus und Eigentumssinn, fanden sich in allen europäischen Gesellschaften und bildeten den Grundstock einer gemeinsamen Kultur der Kleinhändler und Handwerksmeister...“

Eine Geschichte der gesellschaftlichen Orte ist auch eine ihrer Mythologien. Man erinnere sich, wie in den heißen Tagen von 1968 die Fabrikarbeiter von langhaarigen Studenten mittels eng bedruckter Flugblätter dazu ermuntert wurden, sich von ihrer Fronarbeit befreien zu lassen. Möglicherweise stammte das studentische Bild der Fabrikarbeit noch aus der Phase der frühen Industriellen Revolution. Doch schon zu dieser Zeit paßte das vorgestanzte Muster nicht so recht. Yves Lequien und Sylvie Schweitzer weisen darauf hin, daß zum einen das Handwerk oft schlechtere Arbeitsbedingungen bot und andererseits die Fabrik nicht selten eine Chance zur Befreiung aus der familiären Zwangsjacke war. Dabei übersehen die Autoren freilich nicht, daß die Fabrik auch ein wesentlicher Bestandteil des modernen Strebens war, die Menschen einzuschließen. Sie funktionierte nicht zuletzt als gigantische Disziplinierungsmaschine und war eben deshalb ein weiterer Ort im „Zeitalter des allgemeinen Einschließens“ (Foucault).

In der europäischen Moderne entstehen darüber hinaus ganz unterschiedliche institutionelle Gefängnisse, und das ist weit weniger metaphorisch gesprochen, als es scheint. Die allgemeinen Einrichtungen sind in ihren Funktionen zunächst nur unscharf voneinander unterschieden. Die Besserungsanstalten sind eine Mischung aus Gefängnis und Manufaktur, und selbst der Krankenhausaufenthalt bedeutet immer zweierlei: Bestrafung und Fürsorge. Die meisten Institutionen treten den Armen als Kathedrale der Bedrohung gegenüber, nicht zuletzt auch architektonisch. „Das Ziel der durch die Justiz oder die Gemeindepoilzei verhängten Strafen besteht immer darin, jene soziale Schicht einzuschüchtern, die das größte kriminelle Risiko darstellt: die Armen“, schreibt Jacques-Guy Petit über das Gefängnis. So ist die Geschichte der Vollzugsanstalten geprägt von den Phantasien, die die Bedrohung durch Einschließung bei den Menschen hervorgerufen hat, weshalb der Kerker auch zum wirkungsmächtigen Symbol für Befreiung werden konnte, wie das Beispiel Bastille zeigt. Gleichzeitig werden im Zeichen des Gefängnisses seit über 200 Jahren die bürgerlichen Pathosformeln gefeiert.

Die Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte sind, ursprünglich für die Rias-Funkuniversität geschrieben, gut lesbar, ohne jeden umständlichen Anmerkungsapparat und verweisen in spielerischer Form auf den Facettenreichtum europäischer Lebenswelten und Geistesgeschichte.

Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): „Orte des Alltags“. C.H. Beck Verlag, München 1994, 291 Seiten, 48 DM.

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