■ Delors – der beste Präsident, den die Franzosen nie hatten: Er will kein Retter sein
Ein einzelner Mann hat am Sonntag abend „nein“ gesagt und ein ganzes Land aufgerüttelt. Jacques Delors hätte nächster französischer Präsident werden können. Er hätte die „Sozialistische Partei“ wieder an die Macht bringen können. Er hätte die europapolitische Tradition seines Landes fortführen können. Er hätte eine Zusammenarbeit von gemäßigten Konservativen und Linken erreichen können. Er hätte... Aber er wollte nicht. Delors, der Kandidat wider Willen, zog es vor, seiner Partei, der „politischen Klasse“ und den europäischen NachbarInnen den Spiegel vorzuhalten.
Die SozialistInnen wollten ihn als Retter. Delors' Kandidatur war ihre einzige Chance, wieder den Präsidenten zu stellen. Der Sozialdemokrat sollte die Korruptionsfälle, die Abwesenheit einer erkennbaren politischen Linie und die letzten Wahldebakel der Partei vergessen machen. Statt dessen mußte sie sich von Delors sagen lassen, daß er ihr keine Regierungsverantwortung zutraut. Daß er befürchtet, als Präsident keine Partner für seine Reformen zu finden. Die auf sich selbst zurückgeworfene Partei wird jetzt in Fraktionen zerfallen, wird erneut beweisen, daß sie keine politische Alternative ist und wird die Präsidentschaftswahlen selbstverständlich verlieren.
Präsident François Mitterrand wollte ihn als Nachfolger. Er mußte sich von Delors sagen lassen, daß seine 14jährige Präsidentschaft nicht die Voraussetzungen für eine Nachfolge aus dem eigenen Lager geschaffen haben. Und daß die Kohabitation eines sozialistischen Präsidenten mit einer konservativen Regierung ein Verrat am Wahlvolk sei, weil sie Reformen verhindert.
Die Konservativen wollten ihn als Gegner. Seine proeuropäische Haltung hatte ihnen ein leichtes Wahlkampf-Thema beschert, und sein starkes Abschneiden in allen Umfragen hatte sie dazu gezwungen, einen gemeinsamen Kandidaten zu suchen. Jetzt werden aus dem rechten Lager zahlreiche konkurrierende Kandidaten antreten.
Die europäischen Nachbarn wollten ihn als berechenbaren Partner. Sie mußten sich sagen lassen, daß die künftige Europapolitik Frankreichs unberechenbarer wird. Im konservativen Lager, das den nächsten Präsidenten stellen wird, herrschen antieuropäische bis europafeindliche Töne vor.
Delors, hat mit seinem „Nein“ ein ganzes Volk verblüfft. Er hat bewiesen, daß er nicht nur politisch erfahren und stark ist, sondern auch integer und entschieden weniger machtverliebt, als von PolitikerInnen erwartet wird. Mit einem einzigen Interview wurde er der beste Präsident, den die Franzosen nie hatten. Dorothea Hahn/Paris
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