Rollen, fallen und fliegen

■ Die Vielfalt der Tanzinitiative Hamburg e.V. ist verblüffend

Bernstorffstraße 117 in Altona, ein Hinterhof. Der Aufgang ist schwer zu finden, obwohl ein Schild „Triade“ zum Tanzzentrum führt. Im oberen Stockwerk sitzt Jan Tetens am Schreibtisch und zählt Anmeldungen für die bundesweite Contact-Jam, die zwischen Weihnachten und Neujahr stattfindet. Programmplan: morgens 10 Uhr Frühstück, kurz warmmachen. Bis zum Abendbrot um 17 Uhr heißt es dann: sieben Stunden täglich tanzen. Wer will das freiwillig? „30 Anmeldungen liegen schon vor. Mehr als 40 sollen es auch nicht werden, und die Hamburger sind noch gar nicht eingerechnet.“

Jan ist einer der 15 Tänzerinnen und Tänzer, die sich im letzten Jahr zur Tanzinitiative Hamburg e.V. (TiH) zusammengeschlossen haben. Die Initiative ist für Hamburg schon etwas Besonderes: Die Hansestadt zeigt wenig Interesse am zeitgenössischen Tanz. Zwar schmückt man sich gern mit dem großen Namen John Neumeiers, aber jenseits des Balletts werden kaum andere Tanzstile gefördert – anders als etwa in Berlin. Zudem streiten sich in Hamburg die freien Tänzer oft auch noch untereinander wegen der paar Mark, die die Kulturbehörde vergibt – ein trauriges Bild.

Also haben sich die Mitglieder der TiH selbst ein Forum geschaffen für neue, zeitgenössische Tanzformen. Sie proben hier, unterrichten, tauschen sich aus und bilden eine Produktionsgemeinschaft, um sich Auftrittsorte zu erschließen. Denn, so Mit-Initiatorin Irmela Kästner: „Management ist heute das A und O.“

Gegründet hat sich die TiH auf Initiative von Gloria Brandt-Burgert. „Es war im Frühjahr 1993, Gloria und Susanne kamen gerade von ihrer Ausbildung an der School for New Dance Development in Holland“, erinnert sich Heilke Bruns. Dann kamen noch zwei Frauen aus dem Kinesis in Altona hinzu. „Und dann wurden es ganz schnell ganz viele.“

Heilke ist gelernte Rhythmik-Lehrerin und hat gerade die Ausbildung Body-Mind-Centering in Massachussetts abgeschlossen. Aber was ist Body-Mind-Centering? Und was sind all die anderen Techniken, die in der TiH getanzt und gelehrt werden: Shiatsu, Alexandertechnik, Laban, CMA, Authentic Movement, Suprabto, Hatha Yoga, Contact? Und was ist Contact 17?

Anruf bei Jan Tetens. Was ist „Contact 17“? Jan lacht. „Nein, die heißen nicht so, weil es 17 Leute sind. Der Name kommt von der Musikgruppe ,Station 17' in den Alsterdorfer Anstalten. Das ist 'ne Band aus behinderten und nichtbehinderten Musikern. ,Contact 17' ist das gleiche, nur mit Tänzern. Die treten oft zusammen auf. Aber frag mal Stina, die war von Anfang an dabei.“ Wo ist Stina?

Die Gruppe in der Tanzinitiative ist nicht homogen. Alle haben ähnliche Wurzeln im Contact oder in der Improvisation, aber jeder bringt sein eigenes Spektrum von Techniken mit.

Ein Teil dieses Spektrums ist die sogenannte Contact-Improvisation. Sie wurde 1972 in den USA entwickelt, von der Gruppe um Nancy Stark-Smith und Steve Paxton. Im Contact begegnen sich eine beliebige Anzahl von Tänzern ohne feste Choreographie. Sie bewegen sich im Fluß der Impulse, die der Körperkontakt mit dem Partner auslöst.

Hamburg zeigt wenig Interesse am zeitgenössichen Tanz

Die beiden Amerikaner erforschten dafür die Sinne. Alle Sinne müssen geschärft werden, nicht nur der Tastsinn. Die Haut beispielsweise registriert die Berührung und ahnt, wohin sich die Bewegung im nächsten Moment entwickelt. Auch in den Muskeln sitzen Rezeptoren, die dem Gehirn melden, in welcher stabilen oder instabilen Lage im Raum sich der Körper gerade befindet. Ziel: durch den sphärischen Raum navigieren – am Boden, im Stehen, im Fliegen, in der Luft. Wichtig ist vor allem der Genuß an der Bewegung.

Anruf bei Heilke Bruns. Wo ist Stina? „Die hat zuletzt gejobbt am Mouson-Turm.“ Moment mal: Etwa DER Mouson-Turm in Frankfurt, in dem der international renommierte Choreograph Rui Horta arbeitet? Der inzwischen dreimal nach Kampnagel eingeladen wurde? „Ja, genau. Aber frag mal Irmela.“ Wo ist Irmela? „Die probt gerade in Niedersachsen mit einem Objektkünstler, Frank Niemöller.“

Seit ihrer Entstehung vor 22 Jahren hat sich die Contact-Improvisation weiterentwickelt. Der Tanz ist nicht mehr so hart, das „Colliding“ – Zusammenprallen – der Tänzer hat abgenommen. Man tanzt vor allem weich, geht tiefer in die Berührung, läßt die Bewegung lange ausklingen. Aus diesem Zweig hat sich durch Alito Alessi das Projekt DanceAbility entwickelt, das gemeinsame Tanzen von Menschen mit und ohne Behinderung.

Von den Mitgliedern der TiH tanzt vor allem Sigrid Bohlens DanceAbility. Darüber hinaus arbeitet sie momentan mit zwei anderen Frauen aus der TiH an einem Tanzfilm. Im Seehundfell erforschen sie den Rückzug in die eigene Haut. Was passiert, wenn ich die Haut, Hülle, Kleidung loslasse? Und vor allem: Wie komme ich aus der Situation, in die ich hineingeraten bin, wieder zurück, in mich?

Anruf bei Irmela Kästner. Wo ist Stina? „Die tritt irgendwo auf in New York. Da fällt mir ein: Ich hab' letztens Mark Tompkins in Berlin getroffen. Der war gerade auf dem Weg zum Flughafen. Der tritt da auch auf. Nein, wo genau weiß ich nicht. Frag mal Sigrid.“

Die Vielfalt der Techniken in der Tanzinitiative ist verblüffend. Zu Hause ist hier etwa auch die Technik des mexikanisch-indianischen Choreographen José Limón (wer in der Staatsoper schon mal The Moor's Pavane gesehen hat, bekam einen Einblick). Sie kam in den 40er Jahren auf und zählt zu den sogenannten „Modern“-Techniken. Hier geht es um den Moment der Schwerelosigkeit des Fallens, bevor wieder eine andere Richtung eingeschlagen wird. Dieser Moment wird „suspension“ genannt, und so heißt auch das dritte Tanz-Video von Irmela Kästner, die in der TiH Modern auf der Basis von Limón tanzt. In Suspension dreht und schwebt sie mit der BMC-Tänzerin Barbara Schmidt-Rohr und der Contact-Tänzerin Annett Walter auf dem Geländer der Harburger Elbbrücke. Der Ort, aber auch das Symbol Brücke, schafft den Boden für die drei Performerinnen.

Für Herbst 1995 werden die Bewegungsleute ein Festival ausrichten. Förderung bekommen sie seitens der Kulturbehörde nicht, das ist jetzt amtlich. Trotzdem soll Schanzentanz stattfinden, mit sechs oder sieben Kurzproduktionen über zehn Tage. Dort werden unter anderem all die Projekte gezeigt, von denen hier die Rede war.

Spät nachts um halb eins noch ein Rückruf von Sigrid Bohlens, zur Zeit in Freiburg: „Das Festival in New York heißt ,Movement Research'. Stina ist am 24. Dezember wieder in Hamburg.“

Seltsam, daß andere Großstädte eine Plattform haben für den zeitgenössischen Tanz. Und die Hamburger dafür über den großen Teich fliegen müssen.

Gabriele Wittmann