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Zombie

■ Eine Gruselgeschichte von Joyce Carol Oates

Ich heiße Q. P., und ich bin neunundzwanzig Jahre alt, neunundzwanzig Jahre und drei Monate.

Meinen Bewährungshelfer, Mr. T., sehe ich donnerstags, morgens um zehn, und meinen Therapeuten, Dr. E., montags und donnerstags um sechzehn Uhr dreißig; meine Gruppentherapie mit Dr. B. ist dienstags, von sieben bis acht Uhr dreißig.

Ich bin eingeschriebener Student am Wirtschaftscollege von Dale County, wo ich im Frühlingssemester zwei Hauptkurse belegt habe: Einführung in die Buchhaltung und Computergraphik.

Ich wohne 118 Church Street, Mount Vernon, Michigan. Das ist in der Nähe der Staatsuniversität. Sieben Meilen von Dale entfernt, aber es stört mich nicht, ich habe meinen Kombi.

Mit meinem Ford-Kombi fahre ich überall hin. Er ist Baujahr 1987, nicht mehr neu, aber zuverlässig. Im Rückfenster habe ich einen Aufkleber mit der amerikanischen Flagge.

Die 118 Church Street ist ein Mietshaus, und ich bin der Hausmeister. Das Haus ist ein hohes, schmales, viktorianisches Backsteinhaus mit einem leicht verdreckten Aussehen, als sei jemand mit dem Daumen drübergefahren. Es hat drei Stockwerke, mit einem Dachboden und einem tiefen Keller mit Steinfundament; vorne ist das Datum 1892 eingemeißelt.

Unsere Mieter sind Universitätsstudenten.

Als Hausmeister wohne ich Parterre hinten, weil das am praktischsten ist. Die Kellertreppe ist gleich nebenan, und wer dorthin will, kommt an meiner Tür vorbei. Mein Werkzeug und die Ersatzteile und der Arbeitstisch sind im Keller.

Aber ich kann natürlich auf alle Etagen. Weil ich Hausmeister bin. Und dafür bin ich dankbar. Mein Generalschlüssel öffnet mir jeden Raum im Haus.

Die meisten Mieter sind ausländische Studenten aus Indien, China, Pakistan, Afrika. Häufig haben sie zunächst Schwierigkeiten mit den Schlössern, deshalb rufen sie mich um Hilfe. Und ich komme immer, wenn ich auch nur das Nötigste spreche. Und jeden Augenkontakt meide.

Alle Häuser in der Church Street sind alte, geräumige viktorianische Häuser. Früher waren sie Einfamilienvillen. Jetzt sind sie Mietshäuser wie unseres, oder sie sind Bürogebäude.

„Q.P., Hausmeister“ steht in sauberen Druckbuchstaben auf einer kleinen weißen Karte neben meiner Tür. Ich habe es selbst geschrieben, mit schwarzer Tinte.

Gestern abend habe ich lange im Keller gearbeitet und einen Schaden am Abfluß repariert. Wenn ich einmal angefangen habe, arbeite ich durch und verliere das Zeitgefühl. Ich brauchte keinen Schlaf (ich hatte meine Medikamente nicht genommen, die um zehn Uhr fällig waren), und so stieg ich irgendwann, mitten in der Nacht, hinauf auf den Dachboden und schaute aus dem Fenster in den Nachthimmel, wo der Mond so hell schien, daß mir die Augen weh taten! Wolkenfetzen, die über den Mond wanderten, klumpten und fetzten wie wilde Gedanken.

So eine Schande, hatte Dad gesagt.

Aber jetzt schlagen wir eine neue Seite auf, was, Sohn?

Mein Vater ist ein angesehener Physiker an der Universität. Ich weiß, daß er verstört war, als er bestimmte Dinge über seinen einzigen Sohn erfahren mußte, und alles auch noch öffentlich. Bekennt sich Ihr Mandant schuldig? hatte Richter L. gefragt, und mein Anwalt sagte, Mein Mandant bekennt sich schuldig, Euer Ehren.

Im Herzen bekannte ich mich nicht schuldig, weil ich weder schuldig war noch bin. Aber es war auch eine Rassensache. Der Junge ist schwarz, und Q. P. ist weiß, da kann man nichts machen, meinte mein Anwalt.

Aber ich stehe wieder auf gutem Fuß mit der Familie. Das ist eine Erleichterung. Ich habe ihnen gesagt, wie leid es mir tut, daß ich ihnen weh getan habe. Und wieviel es mir bedeutet, daß sie mir vertrauen. Von jetzt an werde ich eurem Vertrauen gerecht, habe ich ihnen gesagt.

Es fällt mir schwer, sie zu umarmen! Besonders Dad. Alle Knochen widerstreben. Aber ich mache es, und ich glaube, ich mache es richtig. Mama und meine große Schwester weinten, und in meinen Augen stieg eine brennende Flüssigkeit hoch.

Als Richter L. verkündete, zwei Jahre, da blieb mir einen Moment lang das Herz stehen, bis er hinzufügte, auf Bewährung. Seine Augen, in die ich hineinsehen mußte (mein Anwalt riet mir das), wirkten streng, aber auch gütig.

Richter L. kennt meinen Dad, und mein Dad kennt Richter L. Mount Vernon ist keine Kleinstadt; aber wichtige Männer kennen sich hier genauso wie überall, glaube ich.

Hinterher schüttelte mir Dad die Hand so kräftig, daß es schmerzte, und er umarmte mich, und hinter seiner Brille sah ich Tränen in seinen Augen. Jetzt werden wir alle eine neue Seite aufschlagen.

Auf den Dachboden kommt man über eine steile Treppe hinten auf der dritten Etage. Ich ging leise auf Wollsocken, weil ich nicht den jungen pakistanischen Doktoranden wecken wollte, dessen Zimmer fast unter der Treppe liegt.

Ramid wäre kein sicheres Exemplar. Überhaupt keiner von denen unter diesem Dach. Ich denke nie daran.

Auf dem Dachboden roch es kräftig und scharf nach Staub und diesem süßsauren Geruch toter Mäuse. Ich atmete tief ein und richtete meine Taschenlampe in die Ecken des Dachbodens. Schatten springen wie Fledermäuse. Wenn sich das Licht bewegt, springen die Schatten.

Auf dem Dachboden fühle ich mich nicht so wohl wie im Keller, wo ich mein Zeug habe. Der Raum auf dem Dachboden ähnelt bestimmten Träumen, die ich in der Besserungsanstalt hatte, wo Schatten, die fest hätten sein sollen, sich aufzulösen begannen. Und ich habe es nicht unter Kontrolle. Der Keller ist sicher unter der Erde, aber der Dachboden liegt vier Stock über der Erde. Die Konzentration kosmischer Strahlen ist stärker auf größeren Erhebungen.

Letzten Sonntag meinte der Eigentümer, ich sollte den Dachboden aufräumen wegen der Brandgefahr, und ich fange bald damit an. Der Keller hat im Moment bei mir größere Priorität, aber als nächstes mache ich mich an den Dachboden.

Jetzt werden wir eine neue Seite aufschlagen, was, Sohn? nd ich sagte, Ja, Dad.

Der Gedanke, mir einen Zombie zum Privatgebrauch zu schaffen, fuhr mir vor fünf Jahren wie ein Blitz durchs Gehirn.

Ja! Bei solch seltenen Gelegenheiten fühlt man, wie die elektrisch geladenen Neuronen des Vorderhirns neue Muster bilden, wie Eisenfeilspäne, die von einem Magneten angezogen werden.

Die Erde steht unter ständigem Beschuß überschneller kosmischer Strahlen. Eine Stimme hielt eine Vorlesung. Eine verstärkte Stimme, die ich zuerst gar nicht als die von Dad erkannte.

Kosmische Strahlen aus dem Weltraum. Aus einer Entfernung von Millionen Lichtjahren. Stärker konzentriert auf höheren Erhebungen. Es war ein abgedunkelter Vorlesungsraum an der Universität, wo ich mich hinten versteckt hatte, um Professor R.P. vor seinen Studenten zu hören. Vielleicht strebte ich nach Wissen, oder nach einem Geheimnis? Ich muß da hinten eingenickt sein, und als ich aufwachte, wußte ich nicht gleich, wo ich war, was mir damals ab und zu passierte, wenn ich mich nicht so gut unter Kontrolle hatte, weil ich manchmal achtundvierzig Stunden ohne Schlaf durchmachte und dann einfach wegsackte, wo ich gerade war. Wenn Dad mich dort unter seinen Studenten erkannte, ließ er sich das natürlich nicht anmerken! Aber er konnte mich im Dunkeln nicht sehen, da war ich sicher.

Auf einem beleuchteten Schirm vorne sah man die Computersimulation eines Abschnitts des Universums, zweihundert Millionen Lichtjahre groß, auf dem man sah, wie das Universum sich von seiner ursprünglichen Einfachheit und gleichmäßigen Materieverteilung zu dem gegenwärtigen Zustand mit Sternhaufen, Galaxien und „schwarzer Materie“ entwickelt hatte. Die Masse des Universums befindet sich zu neunzig Prozent in unsichtbaren „schwarzen Löchern“. Der größte Teil des Universums kann daher mit unseren Instrumenten nicht entdeckt werden und „gehorcht“ vielleicht nicht den uns bekannten Naturgesetzen.

Professor R. P.s mehrere hundert Studenten schrieben eifrig mit. Mir kam der Gedanke, daß keiner, fast keiner von ihnen ein geeignetes Exemplar für einen Zombie abgäbe!

Nur: Man brauchte einen gesunden jungen Menschen, männlich. Man brauchte jemanden mit „Kampfeslust“ und „Schwung“.

Aber die Universitätsstudenten hatte ich mir verboten, seit jenem ersten Vorfall, als ich noch ganz unwissend war, der zum Glück noch einmal gutging. Es war dunkel hinter dem Studentenheim, und der Junge war betrunken und beugte sich vor, kotzend und würgend, und als er mich hörte und aufblickte, knallte ihm der Wagenheber aufs Ohr, so daß er zusammenbrach, ohne daß er mich richtig wahrnehmen konnte, also war es o.k. Ich trug meine Jacke mit der Kapuze, und Zeugen waren auch keine da, aber trotzdem geriet ich in Panik und rannte, wie ich es jetzt nie mehr täte! Aber es war o.k. Eine gute Lehre.

Tatsache ist: Jeder Universitätsstudent (mit der möglichen Ausnahme bestmmter ausländischer Studenten, die weit von zu Hause sind) würde sofort vermißt. Ihre Familien kümmern sich um sie. Und sie haben Familien.

Ein besseres Exemplar für einen Zombie wäre jemand von außerhalb. Ein Tramper oder ein Wanderarbeiter oder ein Junkie (aber noch in gutem Zustand). Oder aus den schwarzen Vierteln. Jemand, der niemandem etwas bedeutet. Jemand, der besser nie geboren wäre.

Ich machte, daß ich vom Vorlesungsraum hinüber zur Psychologiebibliothek kam, um die chirurgische Methode der Lobotomie nachzuschlagen.

Und zwar deshalb: Wenn man das Universum so sieht, dann merkt man, wie lächerlich der Glaube ist, irgendeine Galaxie sei von Bedeutung, oder gar ein Stern in einer Galaxie, oder ein Planet, der in all der Leere wie ein Sandkorn wirkt. Ganz zu schweigen von einem Kontinent oder einer Nation oder einem Staat oder einer Provinz oder einer Stadt oder einem Menschen.

Die Idee kam mir auch deshalb, weil ich damals meinen Pimmel nicht mehr steif kriegte, wenn mir ein Kerl mit offenen Augen dabei zusah.

Ich wohnte in meiner Zweizimmerwohnung in der Twelfth Street in Reardon, meine erste eigene Wohnung außerhalb Dale Springs, und ich arbeitete für eine Umzugsfirma, oder vielleicht hatte ich damals auch gerade aufgehört, als Dad vorbeischaute. Vierundzwanzig Jahre alt, wird Zeit, daß ich auf eigenen Füßen stehe, hatte ich ihnen gesagt. Und das meinte ich auch so.

Die Woche nach dem Tag der Arbeit, 1989: Pelzhandschuh war jetzt seit zwölf Tagen vermißt, aber kein Wort in der Mount Vernon Gazette oder im Regionalfernsehen – warum auch? Auf dem Weg von Detroit nach Minnesota spurlos verschwunden.

Hunderte, Tausende pro Jahr. Wie Spatzen fallen sie vom Himmel und verschwinden, spurlos.

In Dale Springs wohnen Dad und Mama und meine Schwester Ruthie, und da ist auch Q. P. groß geworden. Ein Vorort von Mount Vernon, sechs Meilen westlich der Universität. Die Innenstadt von Mount Vernon liegt fünf Meilen südlich, und trotzdem sagte Dad, er habe bloß mal vorbeigeschaut.

Das Klopfen an der Tür. Meine Augen rissen auf und mein Herz schlug in kaltem Entsetzen, denn jetzt war die falsche Zeit.

Ich rief irgendwas und kam aus dem Bett, stolpernd fuhr ich in die Hosen. Zog den Reißverschluß hoch. Warf die khakifarbene Decke über die Liege. Die fleckigen Laken, der süßlich-muffige Geruch.

„O. k.“, sagte ich. „Alles klar. O.k.“

Und es war Dad. Mein Dad. Hatte bloß mal vorbeigeschaut, um nach mir zu sehen.

Die Kette war vorgelegt. Gut. Denn als ich die Tür öffnete, stand da Dr. R.P. im Türspalt, mit einem Lächeln auf seinem sandfarbenen Kordgesicht, mit seinem Tweed- Arschloch von einem Mund und seinen glänzenden weißen Kunstzähnen im Türspalt. Ich fummelte an der Kette herum. Dads Augen nur ein paar Zoll vor mir.

Mitten aus einem Traum, in dem ich mich mit Pelzhandschuh streichelte. Seine Stimme wie vor dem Stimmwechsel. Und schlammgrüne Augen, als sich das Wissen in ihnen vertiefte und die Pupillen klein wie Nadelspitzen wurden.

„Hallo, Quentin. Störe ich?“

Dad füllte den Türrahmen, mit starren Augen, außer Atem vom Treppensteigen. Seine Professorenbrille aus schwarzem Plastik auf dem Nasenrücken. Als sich sein Professorenbärtchen von schwarz zu grau färbte, rasierte er es ab, aber auf seinem Gesicht ist immer noch ein Schatten davon.

„Sohn?“

Fragte, wie es mir ginge, und ich sagte, und wie geht's dir, und zu Haus? Und Mama und Ruthie lassen dich grüßen. Und die Augen schossen zur Seite, und die Nasenlöcher weiteten sich. Eine Pause, und dann die Frage: „Dieser Geruch, mein Sohn – was ist das?“

Ich stand da und versperrte Dad die Sicht, aber ich konnte nicht verhindern, daß er schnüffelte, roch. Ich gab mich verwirrt, überrascht, schaute im Zimmer umher, als wolle ich den Geruch sehen. „Nur meine Sportsachen, Dad. Verschwitzte Socken, Joggingschuhe. Handtücher und so'n Kram.“

Dad fragte, schrecklich vernünftig: „Wo kommt das her?“

„Kommt das her?“

„Unter deinem Bett?“

„Meinem Bett?“

Dad machte eine Bewegung, aber ich stand ihm im Weg. Sein Gesicht wurde langsam rot, wie das Gesicht eines alten Mannes rot wird, in Flecken. Er sagte, „Das sind nicht nur Sportsachen, das stinkt wie Müll. Du hast doch wohl keinen Müll hier drin, Sohn, oder?“

Angesehener Professor, Physik. Ehemaliger Fakultätsdekan und langjähriges Mitglied des Michigan State Institute of Advanced Research.

Wie damals, als Dad mich holen kam, aus meinem Zimmer, wo ich meine Aufgaben machte. Ich war zwölf Jahre alt, siebte Klasse. Er zerrte mich am Arm nach unten und in die Garage, um mir die Magazine und den anderen Kram zu zeigen, den ich hinter Stapeln alter Zeitungen versteckt hatte. Und sein Gesicht fleckig und wütend, und damals trug er noch seinen Ziegenbart, und selbst der schien vor Wut zu zittern. Er verdrehte die Magazine in seinen Händen, um nicht die Titelseiten sehen zu müssen, und die Zeichnungen, die da jemand mit rotem Filzer gemacht hatte. Und auf den Innenseiten noch mehr solche Zeichnungen, auf den zweiseitigen Fotos von Muskelmännern, bestimmte Teile ausgeschnitten. Das ist krank, Quentin. Das ist ekelhaft: Ich will so etwas nie wieder sehen. Deiner Mutter werden wir nichts davon sagen. Er wollte noch mehr sagen, aber ihm versagte die Stimme.

Zusammen verbrannten wir das Beweismaterial. Hinter der Garage, wo Mama nichts sehen konnte.

Genauso sah er mich jetzt wieder an. Dads Augen hinter seiner glänzenden Brille. Er war vierundfünfzig Jahre alt mit haarigen schwarzen Nasenlöchern, und die weiteten sich und zogen sich zusammen und weiteten sich wie die Kiemen eines Fisches. „Wie kannst du in solchem Dreck leben, Sohn? Ich kann das einfach nicht verstehen.“

Zwischen den Federn meines Bettes und der Matratze lagen das Messer zum Fische ausnehmen und die anderen, aber ich konnte mich nicht so plötzlich bewegen, um sie zu holen. Ich starrte auf meine Hände, die zitterten, als vibriere das Gebäude vom Verkehr. Ich fragte mich: Kann ich Dad erwürgen? Aber er würde sich wehren, und er war stark. Und wir würden einander so nahe sein. Ich starrte auf meine Hände, als hätte ich sie noch nie zuvor gesehen, und ich sah, daß die Finger plump waren und die Nägel unregelmäßig und abgebrochen, und mit dreckigen Rändern. Wie oft hatte ich mir die Hände mit Seife geschrubbt und die Nägel mit einer Messerklinge sauber gemacht und trotzdem war alles wieder da.

Und dann kam mir die Antwort.

„Ich glaube, ich weiß, was es ist, Dad. Eine tote Ratte.“

„Eine tote Ratte?“

„Oder eine Maus. Vielleicht Mäuse.“

„Hier drin sind tote Mäuse?“ Dads Gesicht verzerrte sich vor Ekel.

Ich sagte und versuchte nicht zu stottern, „Ich w-weiß, daß du und Mama mich nicht so erzogen habt, Dad. Es tut mir leid.“

„Quentin, wie lange ist dieses Zimmer schon so?“

„Nicht lang, Dad. Einen oder zwei Tage.“

„Stört es dich denn nicht selbst?“

„Ich wollte dieses Wochenende mal richtig putzen.“

„Du schläfst hier drin, in diesem Gestank, Quentin, und es stört dich nicht?“

„Es stört mich schon, Dad, ich rege mich bloß nicht so drüber auf.“

„Es macht mir ziemliche Sorgen, Sohn, daß du mich vielleicht anlügst.“

„Aber ich will doch gar nicht lügen, Dad. Ich weiß bloß nicht, was Du wissen willst.“

„Ich will wissen, ob etwas unter deinem Bett ist, oder in diesem Bettzeug auf dem Boden, und warum es stinkt. Du weißt, was ich wissen will.“

„Abgesehen von den Mäusen, Dad“, sagte ich, „weiß ich nicht, was du wissen willst.“

So ging es weiter. Dads Mund formte bestimmte Worte und mein Mund formte bestimmte Worte, und alles war mir vertraut, und das war beruhigend. Und schließlich gab er auf, wie er immer aufgibt, und er fragte, „Quentin, hättest du Lust, heute abend zum Essen zu kommen?“ und ich sagte, „Danke, Dad, aber ich habe keinen Hunger, glaube ich. Ich habe schon gegessen.“

Diese Seite riß ich aus dem Lehrbuch. Ich konnte fast sehen, wie mein Zombie vor meinen Augen Gestalt annahm!

Außerdem, aus „Psychochirurgie“ (1942) von Dr. Walter Freeman von der George-Washington- Universität:

Außerdem waren da verschiedene Diagramme zum Verfahren der transorbitalen Lobotomie, und die riß ich auch heraus.

Mama und Dad hatten gehofft, ich würde Wissenschaftler wie Dad, oder ein Doktor, aber es war anders gelaufen. Ich wußte jedoch, ich würde eine transorbitale Lobotomie durchführen können, sogar heimlich. Dr. Freeman hatte erklärt, er habe manchmal bis zu dreißig Lobotomien täglich durchgeführt, häufig nur mit einem „dürftigen“ Eispickel. Warum also nicht auch Q. P.?

Bei der Gruppensitzung am Dienstag drängte uns Dr. B., „unser Herz zu öffnen“. Wir waren zu elft. Augen wurden niedergeschlagen. Als ich dran war, zogen sich meine Schultern hoch und ich starrte auf meine Schuhe, ganz verfleckte und rostfarbene Joggingschuhe. Ich sagte, wie sehr ich mich schämte, daß ich das liebende Vertrauen meiner Mama und meines Dads verraten habe, nicht nur einmal, sondern viele Male, seit ich sechzehn war. Ich wollte, ich könnte in die Kindheit zurück, sagte ich. Und noch einmal neu anfangen. Als ich noch rein und gut war. Als Gott mit mir war. Ich sagte, ich glaubte an Gott, aber ich dächte nicht, daß er an mich glauben könnte, weil ich seiner nicht wert war. Wenn Mama weint, fällt ihr Gesicht auf so eine bestimmte Art in Falten zusammen, und mein Gesicht fiel auch so zusammen, und die anderen wurden verlegen und schauten fort. Einer von ihnen, ein cooler schwarzer Kerl mit einem rasierten Schädel, gab mir ein Tempo. Ich sprach jetzt immer schneller, wie ein Lastwagen auf einer Bergstraße, dem die Bremsen versagen. Sagte, wie leid mir der zehnjährige Junge tue, den ich „belästigt“ hatte (verzichtete aber auf die Einzelheiten, daß er schwarz war und zurückgeblieben und ein geborener Zombie – wie ich damals glaubte!). Ich sagte, ich wisse nicht, was passiert sei – ob ich mich dem Jungen selbst genähert hätte, zwischen den Häusern hinter den Mülltonnen, wo mein Kombi geparkt war, oder ob mir der Junge dahin gefolgt war und mich „aufgelesen“ hatte, ohne daß ich es merkte. Weil mir manchmal Dinge passieren, die ich nicht verstehe. Zu schnell, als daß ich sie verstehen könnte. Der Junge hatte Geld von mir verlangt, sonst würde er mich verpfeifen. Er verlangte zehn Dollar, und als ich ihm zehn Dollar gab, verlangte er zwanzig, und als ich ihm zwanzig Dollar gab, verlangte er fünfzig Dollar, und als ich ihm fünfzig Dollar gab, verlangte er hundert Dollar, und da verlor ich die Kontrolle und versuchte, ihm was zu tun, aber ich habe ihm nichts getan, ich schwöre es.

Inzwischen stammelte ich, und mein Gesicht war tränenüberströmt und die anderen schauten fort, aber Dr. B. fragte, ob ich diesen Jungen schon länger gekannt hätte und ob ich für ihn Zuneigung empfunden habe, und ich konnte eine Weile kein Wort herausbringen, und dann sagte ich, „Ja, Doktor. Deshalb verlor ich die Kontrolle.“

Nach jeder Sitzung füllt Dr. B. einen Bericht für den Bewährungshelfer aus. Dr. E. und Mr. T. auch. Ich darf diese Berichte nicht lesen, weil sie vertraulich sind, aber häufig erzählen sie mir Details, um mir Hoffnung zu machen.

Quentin, du machst in letzter Zeit wirklich Fortschritte, nicht wahr? Du kommst deinen Gefühlen näher, Quentin!

Ein wirklicher Zombie wäre auf ewig mein. Er würde mir gehorchen und sagen, „Ja, Herr“ und „Nein, Herr“. Er würde vor mir niederknien und sagen, „Ich liebe dich, Herr. Es gibt nur dich, Herr“. Und so würde es sein. Ein wirklicher Zombie könnte nur sagen, was es gibt, und nichts sagen, was es nicht gibt. Seine Augen wären offen und klar, aber sie würden nicht sehen. Sie würden nicht urteilen. Wie Sie, die Sie mich beobachten und Ihre eigenen geheimen Gedanken denken – immer und ständig urteilen. Ein Zombie würde sagen, „Gott segne dich, Herr“. Er würde sagen, „Fick mich in den Arsch, Herr, bis ich blaue Därme blute“. Er würde bitten. Er wäre immer voller Respekt. Er würde niemals lachen oder grinsen. Er würde kuscheln wie ein Teddybär. Er würde seinen Kopf auf meine Schulter legen, wie ein Baby. Oder ich würde meinen Kopf auf seine Schulter legen, wie ein Baby. Wir würden auf meinem Bett im Hausmeisterraum unter den Decken liegen und den Märzwind hören und die Glocken vom Turm des Musikcollege, und wir würden die Glockenschläge zählen und genau im selben Augenblick einschlafen.

Ich kaufte einen Eispickel, im November 1989. Als ich mit dem Kombi am Ufer des Michigan-Sees entlangfuhr, hielt ich an einem kleinen Laden und alles klappte problemlos. Niemand wirkte mißtrauisch. Mein Messer zum Fische ausnehmen, mein zwölf Zoll langes deutsches Steakmesser aus rostfreiem Stahl, mein Schweizer Armeemesser, und noch andere aus meiner Sammlung. Ich fing in der siebten Klasse an zu sammeln; ich wußte, irgendwann würde ich sie brauchen, aber ich wußte nicht genau wann. Oder wie.

Dr. E., der mein „persönlicher Therapeut“ ist, von Dad bezahlt, fragt immer, Wie sehen deine Phantasievorstellungen aus, Quentin? und ich bin verblüfft und verwirrt, werde rot wie in der Schule, wenn ich eine Frage meines Lehrers nicht beantworten konnte und sie nicht einmal verstand. Ich glaube, ich habe gar nicht so – was sie Phantasien nennen, Doktor. Ich weiß nicht.

Bei Pelzhandschuh, bei Braunauge, bei dem großen Kerl hatte ich noch nicht mein Hausmeisterquartier und den Keller der 118 Church, sondern nur meinen Kombi und die Zweizimmerwohnung in der Twelfth Street. Die Badewanne im Bad. Meine Methoden waren plump, und meine Experimente schlugen ständig fehl. Pelzhandschuh, auf den ich so große Hoffnungen gesetzt hatte, zuckte wie ein Wahnsinniger, als der Eispickel sein linkes Auge durchbohrte, und schrie durch den Schwammknebel, zerriß tatsächlich den Ballendraht, mit dem ich seine Knöchel gefesselt hatte, aber er blieb bewußtlos und starb nach zwölf Minuten. Mein erster Zombie – eine glatte Sechs. Braunauge überlebte sieben Stunden, manchmal war er fast bei Bewußtsein, aber ich mußte das Lid seines verbliebenen Auges (ich hatte nur eines „gemacht“) hochheben und mit Tesafilm sichern. Der große Kerl wirkte am aussichtsreichsten, weil ich inzwischen gelernt hatte, mit dem Eispickel umzugehen, geschickt mit dem Instrument parallel zum Nasenrücken zu zielen, wie es Dr. Freeman beschrieben hatte. Außerdem war der große Kerl gut beieinander für einen Neger-Indianer-Mischling und ausgeflippten Basketballspieler-Junkie-Dealer aus Lansing. Und seine Glieder so lang und hart, seine Muskeln, sein Penis wie ein Ende Blutwurst, seine Haut ein sattes pflaumenblau. Es machte mir Spaß, mit der Zunge zu lecken, mit den Zähnen zu beißen. Aber der große Kerl enttäuschte mich genau wie die anderen, denn er kam nach der Lobotomie nie ins „Bewußtsein“ zurück, im wahren Sinne des Wortes, und nachdem ich ihm den Knebel rausgenommen hatte, schnaufte er in tiefen, zitternden, schnarchenden Zügen. Ich machte mir Sorgen, er wäre durch die Wände meines Zimmers zu hören, falls da jemand wäre, der es hören könnte. Der große Kerl lebte ungefähr fünfzehn Stunden – ich glaube, er starb, als ich ihn in den Arsch fickte, um ihn als Zombie zu disziplinieren, und daß er tot war, begriff ich erst in der Nacht, als ich zum Pinkeln aufwachte und fühlte, wie kalt er war, seine Arme und Beine über mir, wie ich sie arrangiert hatte, schon in der Totenstarre verkrampft, deshalb kriegte ich Angst, ich wäre in seiner Umarmung gefangen!

Meine ersten drei Zombies – alle voll daneben!

Aber ich gab die Hoffnung nicht auf. Und ich habe sie immer noch nicht aufgegeben.

Mama rief an und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich war gerade im zweiten Stock, um die eingerostete Lüftungsklappe in Akhils Zimmer mit einem Schraubenzieher zu öffnen. Akhil kommt aus Kalkutta, ein Physikdoktorand, sehr scheu und dunkelhäutig, er muß mindestens Mitte zwanzig sein, aber er wirkt wie fünfzehn, und sein Englisch ist so sanft und flüsternd, daß ich mich vorbeugen muß, um ihn zu verstehen, und ich muß dabei aufpassen, ihm nicht in die Augen zu sehen. „Danke sehr, Mister“, sagte er, und in unserer gemeinsamen Verlegenheit warf ich ihm einen Blick zu, und er beobachtete mich, seine Augen feuchtbraun, mit einem Glänzen darin.

Meine Stimme klang amerikanisch, ein bißchen gepreßt. Aber ich glaube, ich sagte, was jeder Hausmeister sagen würde: „Das ist mein Job.“

Mamas Anruf ist schiefgelaufen, der Anrufbeantworter hat das Band gelöscht. Wollte wohl wissen, ob ich Sonntag zum Essen komme; wahrscheinlich.

Tut mir leid, daß ich in Dale so viele Vorlesungen verpasse, vor allem, weil ich doch diesmal unbedingt eine neue Seite aufschlagen wollte. Und beim Buchhaltungskurs habe ich den ersten Test verbockt. Und den zweiten verpaßt. Und seit der Verhaftung und dem Verfahren und dem Urteil auf Bewährung sieht Dad mich anders an. Als hätte er jetzt Angst vor mir, wo er vorher ungeduldig und tadelnd war, als sei Q., sein einziger Sohn, einer seiner Studenten, der eine Vorlesung schwänzt. Ich weiß, was er denkt: all die Schande für die Familie P., Q. ein geständiger Sexualtäter, aber wenigstens ist er nicht im Staatsgefängnis. Immerhin wurde sein zehnjähriges Opfer nicht verletzt. Oder schlimmer. Wenn Dad sagt, Es ist eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft, Sohn!, und mich mit seinem faltigen rosa Arschmündchen anlächelt und seine Professorenaugen hinter seiner Brille sich verengen.

Mama umarmt mich und stellt sich auf die Zehenspitzen, um mich auf die Wange zu küssen, und ihre Knochen sind wie trockene Zweige, die ich mit den Händen knacken könnte, deshalb stehe ich ganz gerade und still und atme nicht ein, um ihren Duft nicht wahrzunehmen. Wonach sie duftet, weiß ich nicht und benenne ich nicht. Du weißt, daß wir dich lieben, Quentin, sagt Mama immer, wie ein Kassettenrekorder, wenn man auf den Knopf drückt. Diesmal wird alles gut werden.

Ich sagte, Das ist wahr, Mama.

Ich sagte, Dafür werde ich ganz bestimmt sorgen, Mama.

Nur: Ich wache auf in meinem Hausmeisterbett, Parterre hinten in der 118 Church Street, und mir fällt ein, daß mein Computerkurs gestern war, oder ich fahre raus nach Dale, und es ist der falsche Tag, oder die falsche Zeit. Dann fahre ich trotzdem raus, weil der Kombi schon mal in die Richtung fährt und ich abergläubisch bin und nicht spontan die Richtung wechsle. Und wenn da ein Tramper steht, beobachte ich ihn und überlege ganz unbeteiligt, was für einen Zombie er abgäbe, aber so nahe zu Hause komme ich gar nicht erst in Versuchung. Und draußen am College, in Wirklichkeit so eine miese fünftklassige Betriebswirtschaftspenne, wie sie die Typen an der Uni nicht mal mit dem Arsch anschauen, parke ich meinen Kombi und wandere über den „Campus“ und denke, ich schaue bei meinen Professoren vorbei und sage ihnen, in der Familie gäbe es einen Krankheitsfall, aber dann finde ich ihre Büros nicht oder wenn ich sie finde, ist niemand da, oder ich werde abgelenkt von ein paar jungen schwarzen Kerlen aus meinem Buchhaltungskurs, denen ich in die Cafeteria nachgehe, wo ich dann einen Kaffee trinke und mich umsehe, ob ich jemanden erkenne oder ob jemand mich erkennt oder auch nicht. Ich trage meine Bücher und ich bin richtig angezogen, seit der Verhaftung nicht mehr mit Pferdeschwanz, aber ich trage Braunauges scharfen Lederhut mit der runtergebogenen Krempe, und Pelzhandschuhs pelzgesäumte Handschuhe stecken in der Tasche meiner 300-Dollar-Schaffelljacke, und meine getönte Sonnenbrille im Fliegerstil ist wie die Sonnenbrille des großen Kerls, also wirke ich ziemlich cool, denke ich, für einen ganz normalen Weißen Ende zwanzig, dessen Haar langsam schütter wird. Und es ist überraschend, wie freundlich die Studenten in Dale sind und wie vertrauensvoll. Es sind alles Fahrstudenten wie ich, und sie leben in Mount Vernon oder Umgebung. Manchmal holt sich sogar ein Mädchen einen Stuhl, um sich an meinen Tisch zu setzen, wenn sie Freunde von ihr bei mir sieht oder sogar, wenn sie genau genommen gar keine Freunde sind. Hi! sagt sie, wie ein Cheerleader aus der High School, wie die Mädchen in meiner High School, die durch Q.P. hindurchsahen, als gäbe es ihn gar nicht. Du bist in meinem Computerkurs, stimmt's?

Ich sollte auch noch meine handgenähten Stiefel aus bronzefarbenem Leder erwähnen, ein bißchen zu groß für mich, Geschenk von Rooster. Letzten Dezember, Gratiot Avenue in Detroit.

Ich habe niemals ein Exemplar in Mount Vernon oder Umgebung aufgelesen (außer dem schwarzen Jungen aus den Roosevelt-Blocks, und den zähle ich nicht). Aber es lohnt sich, in Übung zu bleiben, indem man mit ihnen spricht. Wenn ich auch meistens nur zuhöre, um ihre Ausdrücke zu lernen, ihren Slang. Wie sie ihre Hände bewegen, den Mund, die Augen. Aber ihre Augen meide ich. Manchmal fahre ich einen von ihnen nach Hause, kleiner Umweg. Es macht keine Mühe, und sie werden sich an mein Gesicht erinnern und den grünen Ford-Kombi mit dem Aufkleber mit der amerikanischen Flagge im Rückfenster. Ein großer Aufkleber, paßt genau ins Rückfenster. Wenn ich einen Leumundszeugen brauchte, zum Beispiel bei einem Prozeß, dann würden sie sich wohl an Q. P. erinnern – vielleicht nicht an den Namen, aber daß ich nett war.

Einem dürren Chinesenjungen hab ich mal meine Schaffelljacke geliehen, in einer eiskalten Winternacht, einfach so. Und er hat sie wiedergebracht. Er hieß Chou oder Chin oder so, mit einem „ping!“-Ton drin. Und seine Augen glänzend schwarz.

Einmal hat sich einer gegen die Wirkung des Schlafmittels gewehrt, seine Augen rollten zur Seite wie Murmeln. Und sagte, „Hey Mann, ich glaube, ich will das nicht, o.k.? Laß mich, Mann“ – und ich sagte ihm, er könnte eine Weile bleiben, es wäre ganz in Ordnung, wenn er ein bißchen bliebe, und ich würde ihn auch bezahlen, und er sagte, er werde es niemandem sagen, wenn ich ihn gehen ließe, aber ich wußte es besser. Und ich zog die Schnur an, so daß seine großen Augen hervorquollen und seine Haut graublau wurde, und die Lippen, auf die ich immer starren mußte, wurden aschen, und es durchschoß mich wie ein Stromschlag: Er weiß Bescheid! Er hat's kapiert! Kein Weg zurück! Das ist nämlich der Punkt, den man erreichen muß. Die Schwelle zu dem schwarzen Loch, das einen einsaugt. Vor einem Sekundenbruchteil warst du noch frei, aber ein Sekundenbruchteil später wirst du in das schwarze Loch gezerrt. Und mein Schwanz so hart wie Holz. Und dick wie ein Knüppel. Und das Licht hinter meinen Augen. Und ich stotterte auch nicht, wie ich es getan hatte, als er sich in meinen Kombi geschwungen hatte – ganz der coole Typ.

Ich hatte ihm zwei Barbiturate gegeben, zerstampft und in Wodka. Ich sagte, „Ich bin kein Sadist, ich foltere nicht, ich finde dich toll, ich möchte, daß du mitmachst, und es tut nicht weh.“ Ich war erregt. Ich mußte den Reißverschluß aufziehen. Er sah es und wußte Bescheid. Man weiß Bescheid, auch wenn man es nicht genau weiß. Er weinte. Ich sah, daß er noch ein Junge war. Höchstens neunzehn. Ich rammte ihm den Schwamm in den Mund, so daß er fast erstickte, und ich mußte aufpassen, ich wollte ihn ja nicht verlieren. Er war gefesselt, er stand unter Drogen und hätte eigentlich anästhesiert werden müssen, aber das dauerte zu lange. Er lag nackt in der Wanne, und das Wasser lief, und das ließ ihn ausflippen. Er weiß Bescheid! Er weiß Bescheid! Auch wenn er den Eispickel noch nicht sehen konnte, den hielt ich versteckt. Geschmeidiger Junge mit einer Goldfüllung in einem Vorderzahn, und ich hatte ihn mit der Aussicht auf Essen und Wodka in meine Wohnung gelockt, und er hatte geglaubt, der Weiße würde ihm einen blasen und dann bezahlen und er könnte ihm vielleicht die Bude ausräumen, aber so lief das nicht, und die Panik in seinen Augen sagte das auch. Rötlich-verfilztes Haar und die Haut rötlich getönt. Wie bordeauxrote Schuhcreme. Er sah gut aus und wußte das auch, aber jetzt ist es zu spät. Ich befestigte seinen Kopf in der Klammer und brachte den Eispickel an sein rechtes Auge und hob das Lid hoch, genau wie Dr. Freeman es beschrieben hatte, aber als ich ihn einführte, strampelte er und schrie durch den Schwamm, und ich kam, ich verlor die Kontrolle und kam, so wild, daß ich immer weiter kam, unter Zuckungen kam. Ich konnte nicht aufhören, nicht einmal atmen. Ich stöhnte und ächzte nach Luft, und als es vorbei war und ich die Kontrolle wieder hatte, sah ich, was ich angerichtet hatte – der Eispickel bis zum Griff ins Gehirn gerammt, und er starb, er war tot, schon wieder Scheiße gebaut und kein Zombie.

Und dann die Entsorgung. Das Gewicht. So schwer.

Muß auf die Geschwindigkeit achten und alle Verkehrsregeln einhalten, darf nicht „verdächtig“ wirken. Eine Müllkippe ist natürlich strategisch am besten, wo der Boden schon gelockert ist. Und weit von zu Haus – fünfzig, siebzig, hundert Meilen. Die Extramühe lohnt sich, genauso wie jedesmal eine neue Perücke kaufen. Unbebaute Grundstücke, Wäldchen in der Nähe von Parks – riskant, weil Kinder da spielen. Aber leeres Marschland jenseits der Autobahn, wo nie jemand hinkommt – das ist gut.

Wie oft. Ich behalte Erinnerungen, aber ich schreibe nichts auf. Ich erinnere mich an das Nötige, und dann weiter. Und manchmal vergesse ich.

Aber jetzt habe ich den Keller dieses alten Hauses.

Die schwere Schwüle in der Luft, und überall der starke Duft – jemand hat eine Gedichtanthologie in der Cafeteria liegen lassen. Ich blätterte sie durch und las diese Zeilen, und in mir erklang etwas wie die Glocken vom Musikcollege. Denn jetzt ist Frühling, April ist es, und mein erstes Jahr Bewährung ist rum.

Das Haus in der 118 Church Street, 1892 gebaut. Bröckelndes Steinfundament. Der Keller ist in den fünfziger Jahren renoviert worden, deshalb gibt es zwei: den neuen und den alten. Der neue hat einen gegossenen Betonboden und verstärkte Wände, ausgekleidet mit Hartfaserplatten. Da ist der Heizungsraum, der Sicherungskasten, der Arbeitsplatz des Hausmeisters und meine Werkzeuge, wie der Elektrobohrer und die Kettensäge. Der alte Teil des Kellers wird nie benutzt. Er hat einen gestampften Lehmfußboden. Die Deckenbalken sind niedrig und voller Spinnweben, die Wände verrottet. Die trockene Steinzisterne seit Jahrzehnten unbenutzt. Ein starker Geruch nach Abwassern und ein bißchen Sickerwasser in der regnerischen Jahreszeit, aber ich habe eine zweite Pumpe eingebaut. Um dorthin zu kommen, muß man sich langsam sitzend vorwärtsschieben. Man braucht eine gute Taschenlampe. Man braucht einen unbeugsamen Willen.

Die Zisterne ist fast fertig umgebaut und wird bald benutzt werden können. Und wenn ein Zombie ein Fehlschlag wird, dann ist da noch der Rest des Kellers für die sichere Entsorgung. Und es gibt eine neue Tür anstelle der alten verrotteten, und letzte Woche kaufte ich ein Stahlschloß von Sears, als zusätzliche Sicherung.

Ich durfte mich schuldig bekennen, wegen „sexuellen Fehlverhaltens gegenüber einem Minderjährigen“. Der Anwalt, den Dad mir besorgt hatte, hat das mit dem Staatsanwalt ausgekocht. Und Richter L. zeigte sich verständnisvoll. Wo Geld die Hände wechselt, und das Wort eines unbescholtenen weißen Mannes, ledig, neunundzwanzig Jahre alt, gegen das Wort eines schwarzen Jungen aus den Blocks steht, und dieser schwarze Junge ist zehn Jahre alt, aus einer „gestörten“ Familie – da gibt es keine Probleme mit der Gerechtigkeit. Und Q.P. zeigte Reue, er schämte sich und „hatte seine Lektion gelernt“. Ein Blick auf ihn, und man wußte Bescheid.

Zwei Jahre auf Bewährung, Psychotherapie, Beratung. Regelmäßige Vorsprache beim Bewährungshelfer Mr. T. Einverstanden?

Als ich das Richterzimmer verließ, war mir zittrig zumute. Ich wischte mir das Gesicht, und Dad packte mich beim Ellbogen. Kopf hoch, Sohn, alles in Ordnung, Sohn? Und draußen warteten Mama und Ruthie und Pfarrer Eckhorn, Mamas Freund, der bei der Behörde für mich „bürgte“. Und ich trug einen neuen Anzug, braun kariert, und eine beigefarbene Fliege, und mein Haar war geschnitten, sauber rasiert an den Ohren und im Nacken, und ich weinte nicht, sondern lächelte und umarmte meine Familie, und schüttelte Pfarrer Eckhorn die Hand und sagte, Danke, danke, ich bin so glücklich, so dankbar. Danke, daß ihr an mich geglaubt habt. Ein warmer Regen näßte mein Gesicht.

Dad gab mir die Wagenschlüssel und bat mich zu fahren, und ich verstand, daß er mir damit sein Vertrauen ausdrücken wollte. Die Familie vertraute mir und ich würde sie nie wieder enttäuschen. Als ich aus der Stadt herausfuhr nach Dale Springs, wo die Häuser auf großen Grundstücken stehen und die Straßen von Bäumen gesäumt sind, empfand ich deutlich, daß ich nach Hause kam und geliebt wurde, und ich blieb gut unter der erlaubten Geschwindigkeit, und es machte mir nichts, wenn andere Fahrer hupten und mich ungeduldig überholten. Ruthie, immer noch meine große Schwester, die sich um ihren kleinen Bruder kümmert, auch wenn sie jetzt fünfunddreißig ist und Rektorin einer höheren Schule, Ruthie sagte: „Quen war immer der Fahrer in der Familie“, und dann sagte sie schnell „Ich meine ist, stimmt's Quen?“ Ich grinste in den Rückspiegel. „Genau, Ruthie.“

Heimfahren. Ein warm-regnerischer, windiger Tag. Dad neben mir auf dem Beifahrersitz streicht sich das Kinn, wo sein Ziegenbärtchen saß, und Mama und Ruthie hinten, und ich konnte mich kaum noch erinnern, warum ich so glücklich gewesen war, mit einem Gefühl von Freiheit, und dachte an den schwarzen Schwanz, schüchtern schrumpfender Jungenpenis wie ein haarloses Kaninchenbaby. Ich hielt ihn in der Hand und kitzelte ihn mit der Spitze des Eispickels, aber die Pillen hatten noch nicht gewirkt, und der Junge geriet in Panik und begann zu brüllen, bevor er sich losriß und durch die verschlossene Hintertür des Kombi auf die Straße schoß. So wahr mir Gott helfe, ich weiß nicht, wie er das geschafft hat. Und dann rannte er und rief um Hilfe, heulte wie eine Feuersirene, immer lauter und lauter. Mein Zombie!

Er hatte nicht mal einen Groschen verlangt. Vertrauensvoll wie ein Hündchen. Aber ihm konnte ich nicht vertrauen.

Sie fragten mich etwas, und ich hatte nicht zugehört, aber ich muß geantwortet haben, o.k. Dad legte mir die Hand auf die Schulter. Als ich so fuhr an diesem Tag, glaubte ich zum ersten Mal, ich könnte die Bewegung der Erde spüren.

Die Erde, wie sie durch die Leere des Raums rast, um ihre Achse kreiselnd, aber man spürt es nicht. Denn wenn man es spürt, ist man verschreckt und glücklich zugleich, und man weiß, daß nichts zählt, außer dem, was man tut, und man ist, was man tut. Und ich spürte es, und ich wußte, daß ich in die Zukunft fuhr. Es gibt keine Vergangenheit, in die man fahren kann, um etwas zu ändern oder um auch nur genau zu wissen, wie es wirklich war, aber eine Zukunft gibt es auf jeden Fall, und wir sind schon drin.

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

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