: In Moskau geht Angst vor Zensur um
Die russische Öffentlichkeit lehnt den Einmarsch in Tschetschenien mehrheitlich ab / In den Zeitungen und privaten Fernsehstationen wird Jelzins Politik aufs Korn genommen ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Je länger der Feldzug gegen Tschetschenien dauert, desto unruhiger reagiert der Kreml, und desto größer wird jener Teil der Bevölkerung, der die Strafexpedition ablehnt. Nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts VZIOM unter der Leitung des renommierten Soziologen Jurij Lewada hat jedoch keine Frage in den letzten Jahren die Russen in so klar voneinander getrennte Lager geteilt wie die „tschetschenische Krise“. An die dreißig Prozent der Befragten gaben dem tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew die Schuld an der Zuspitzung der Lage, ein Viertel nannte dagegen Jelzin und seine Umgebung.
Insgesamt gesehen, scheint die russische Öffentlichkeit die Schuldigen aber eher im eigenen als im gegnerischen Lager anzusiedeln. Erstaunlich ist, daß gerade die besser gebildeten städtischen Schichten eine gewaltsame Lösung des Problems für richtig halten. Ähnliche Ergebnisse hatten auch schon andere Umfragen gebracht, die die Anfälligkeit vornehmlich der sogenannten Intelligenzler für antiwestliche und nationalistische Parolen zeigten. Fast zwei Drittel der Russen lehnt die Gewaltanwendung aber entschieden ab, hält sie für ineffektiv und nutzlos, deren negative Folgen sich bisher noch nicht ausmalen lassen. Nur sieben Prozent befürchten allerdings, der Krieg könnte direkte Auswirkungen auf das politische System in Rußland in Form einer Militärdiktatur zeitigen.
Die russischen Zeitungen lehnen die Intervention fast einhellig ab. Auch Blätter wie die Iswestija, die Boris Jelzin lange Zeit durch dick und dünn begleitet hat, machen keine Ausnahme. Ihr Kommentator Otto Lazis schrieb, die Regierung sage, „es ist kein Krieg, sondern eine Aktion, die tschetschenischen Freischärler zu entwaffnen. Sie sagen, sie bombardierten Grosny nicht, statt dessen schössen sie auf strategische Ziele. Einer meinte sogar, das Militär gehe ungewöhnlich sanft vor, nicht mit der Axt, sondern mit dem Skalpell“.
Die Fernsehzuschauer können sich ein anderes Bild machen. Noch wird ihnen von den privaten Kanälen ein mehr oder weniger objektives Bild geliefert. Darum verdient macht sich der Kanal NTV, der von der Mosbank finanziert wird.
Eigentümlicherweise hatte Jelzins Leibgarde unter Führung des Generals Alexander Korschakow kurz vor Ausbruch der militärischen Maßnahmen den Direktor der Bank durch einen bis heute nicht aufgeklärten Vorfall einzuschüchtern versucht. Ein Mitarbeiter des Senders kommentierte die neuesten Entwicklungen: „Es sieht nicht gut für uns aus, eine Menge Nervosität macht sich breit.“
Der erste stellvertretende Vizepremier Oleg Soskowetz, der die nichtmilitärischen Belange der tschetschenischen Krise koordiniert, sorgte in Pressekreisen für Unruhe, nachdem er sich über die „unzuverlässige“ Berichterstattung des Fernsehens beklagt hatte und zu umfassender Information aufforderte.
Unter diesem Code verstehen russische Journalisten nach wie vor die Ankündigung baldiger Zensur. Vieles, was aus dem Kreml kommt, erinnert dieser Tage an die überholt geglaubten Sowjetzeiten, etwa, wenn Innenminister Viktor Jerin einen Lagebericht aus dem Kriegsgebiet gibt und ihm nichts anderes einfällt als die Dämonisierung des Gegners: „Durch und durch kriminell, der von Diebstahl lebt, von Waffenschmuggel und Rauschgifthandel.“ Das wäre eigentlich ein Grund für die Polizei, Ordnung zu schaffen.
Der Kommentator der liberalen Zeitung Sewodnja, Pavel Felgenhauer, bezeichnete die tschetschenische Operation vom Standpunkt der Public relations her als ein „totales Desaster“. Die eigens für die nordkaukasische Expedition eingerichtete Informationsstelle erwies sich als unwissend oder so geschwätzig, daß sich die Journalisten gar nicht mehr an sie wenden. Und die staatliche Nachrichtenagentur ITAR-TASS leidet wieder unter den alten Gebrechen: Sie ist fürchterlich langsam, die westlichen Berichterstatter sind ihr um Längen voraus. Bei Ausbruch der Kriegshandlungen meldete sie innerhalb einer Stunde den Einmarsch, zog die Meldung zurück und ergänzte sie schließlich durch eine längere Version.
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