■ Es silvestert schon in Berlin: Feuer frei!
Ein nervenzerfetzendes Krachen zwingt den Passanten in die scheinbare Sicherheit der nächsten Toreinfahrt. Doch da peitscht schon eine Garbe von Kleinstsprengkörpern aus dem zweiten Hinterhof. Nichts wie raus. Da explodiert vor der Toreinfahrt ein Bombenschlag, und links zischt Leuchtspurmunition in drei Farben waagerecht vorbei und zwingt erneut in Deckung. Sarajevo? Tschetschenien? Killing Fields? Falsch, falsch, es naht nur eine Pyromanenfete. Manche nennen das auch Silvester.
Was da an die Stahlgewitter und Materialschlachten so mancher Kriege erinnert, spielt sich nicht erst in einer Woche, sondern bereits jetzt in Kreuzberg ab. Da trainieren insbesondere die Türkenkids für den Tag des Jahres – mit Kordelbombenschlägen, Höllenpfeifern, Chinaböllern und anderen pfundschweren pyrotechnischen Errungenschaften. Früher als in vergangenen Jahren, so die allgemeine Beobachtung zitternder Anwohner, wabern die Cordit- und Schwarzpulverschwaden über die Stadt, werden experimentierfreudigen Jugendlichen Finger abgerissen und die vierbeinigen Freunde der Menschen mit seelischen Störungen zum Tierpsychiater gebracht. Als ob es nicht genug wäre, daß in diesem Jahr die Feuerwehr dreißig Prozent mehr Einsätze wegen Weihnachtsbaumbränden hatte, nicht nur, daß es jetzt schon in der Stadt nach Pulver stinkt wie der Bart von Admiral Nelson nach der Schlacht bei Trafalgar, nein, gestern mußten 75 Feuerwehrmänner mit ihren kleinen roten Autos nach Marzahn fahren, weil es dort zur Freude der Plattenbausiedlung-Kids so geböllert hat, daß das Dach eines Warenhauses vom Explosionsdruck gleich mehrmals angehoben wurde, nachdem dort sechshundert Kilo Silvester-Feuerwerkskörper ebenso vorzeitig wie unabsichtlich gezeigt haben, was in ihnen steckt. Für Freunde wie Feinde der Knallerei war das auch ein Freudenfest. Den einen haben die „geilen Explosionen“ was gegeben, die anderen haben die Knallerei – zumindest in Marzahn – nun hinter sich. Peter Lerch
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