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Im Dunkeln den Aufstand proben

Heute vor hundert Jahren fand in Paris die erste Filmvorführung statt. Das frühe Kino war mehr als nur eine Vorstufe. Es entdeckte die bürgerliche Intimsphäre als Versuchslabor, nicht zuletzt für sexuelle Orientierung  ■ Von Heide Schlüpmann

Der Spielfilm begann in Deutschland als sogenanntes „Kinodrama“. Die Inszenierungen spielen überwiegend im bürgerlichen und städtischen Milieu; das Leben der Arbeiter, auch das Leben auf dem Lande, kommt weniger in den Blick.

In ihrer Mischung aus Dokumentation und Inszenierung halten diese Filme einerseits öffentliches Leben fest: Straßen, Plätze, Cafés, Vergnügungsstätten, Verkehrsmittel, Industrie... Andererseits thematisieren sie in ihren Inszenierungen, auf dem Wege zur narrativen Fiktion, eher das Nicht- Öffentliche, zunächst die Privat- und Intimsphäre. (...)

Das Kino hob zugleich die Schranke zwischen Wirtschaft und Technik einerseits und der Kultur andererseits auf. Im Übergang von einer technischen Innovation, einem bloßen Medium für Wissenschaft und Forschung, zu einer Form der Unterhaltung brach der Film schrittweise in das bürgerliche Refugium der Kultur ein. Zunächst hielt sich der Kinematograph im Rahmen von Varieté und Jahrmarkt, der ausgegrenzten und zugleich zunehmend – zum Beispiel in der Bewegung gegen Schmutz und Schund – kontrollierten „niederen“ Kultur. Erst die Einrichtung eigener Vorführstätten und der Griff nach den Formen bürgerlicher Kunst des Schauspiels stellten eine radikale Irritation dar. Sie führte ab 1907 zur Bildung spezifischer Initiativen eines Kampfes gegen das Kino.

Dieser Kampf war angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung des Kinos zum Scheitern verurteilt. Der Weg der Reformer geht daher in den Vorkriegsjahren von der Ablehnung des Kinos zu ersten Entwürfen einer Spielfilmästhetik, die den Film an die bürgerliche Kultur anpaßt. Gerade noch vor Ausbruch des Krieges setzt sich die Einsicht durch, daß das Kino, das die elitäre Position des Bildungsbürgertums erschüttert, genauso zu ihrer Restauration eingesetzt werden kann – wenn man versteht, es in den Dienst der Erhaltung des Status quo zu stellen. Es sind zuerst die Juristen, die ein in diesem Sinne utilitaristisches Denken offen zum Ausdruck bringen: Ihnen geht es um die Förderung einer letztlich auch für den Staat wichtigen Filmwirtschaft. Wie man die unliebsame kulturelle Begleiterscheinung in den Griff bekommt, überlassen sie den Lehrern und Gelehrten. Diesen wiederum kommt es auf die restaurativen Möglichkeiten des Kinos in der Krise bürgerlicher Öffentlichkeit an. Sie liegen in der Übersetzung der privaten Produktionsform der Familie in die öffentliche Konsumtionsform der Massenkultur, in der ideologischen „Rettung der Familie“ als Disziplinierungsinstrument. Der wilhelminische Bürger ist als Privatmann, und das heißt: als Geschäftsmannn, seiner politischen Öffentlichkeit beraubt, auf die Intimsphäre der Familie als alleiniger Basis einer literarischen Öffentlichkeit zurückverwiesen. Diese Familie selber ist sowohl durch die politische Ohnmacht ihres Oberhauptes wie auch durch die wirtschaftliche Entwicklung, die eine zunehmende Frauenerwerbsarbeit mit sich bringt, verunsichert. Die Krise der Öffentlichkeit greift daher weit über die parlamentarischen Institutionen hinaus in alle kulturellen Bereiche. Aber in der Krise der Kultur manifestiert sich nicht nur die politische Resignation, sondern, worauf die Frauenbewegungen der Zeit verweisen, nicht zuletzt auch die Abhängigkeit bürgerlicher Öffentlichkeit von der Restitution einer feudal-patriarchalen Rolle des Bürgers im Hause. Es gibt, zum Beispiel bei Georg Simmel, Ansätze, das Verhältnis der Geschlechter neu zu diskutieren. Sie zielen jedoch darauf, die familiale Ordnung der Geschlechter zur Form kultureller Arbeitsteilung überhaupt zu erheben, statt das feudale Residuum im Bürgertum aufzugeben.

Simmels Gedanken repräsentieren strukturelle Veränderungen auf dem Weg der Moderne in die Massenkultur. In der „Ausdehnung“ der bürgerlichen Kultur – Programm der Volksbildungsbewegung – anstelle einer Öffentlichkeit, die die Frauen und die Arbeitermassen nicht ausschließt, avanciert die familiale Ordnung zur öffentlichen Form einer Kultur, die sich der herrschenden Macht unterwirft. Der Versuch der Kinoreformer, das Modell der Familie auf dem Boden einer massenkulturellen Öffentlichkeit wieder aufzurichten, bedeutet daher auch mehr als die ideologische Bestätigung bürgerlicher Lebensform, sie bedeutet die Unterwerfung der Massenkultur unter die herrschenden Machtverhältnisse, ohne daß diese Macht in Erscheinung treten müßte. Kino und Filmproduktion entwickelten sich jedoch im wilhelminischen Deutschland noch weitgehend unabhängig vom Bildungsbürgertum. Sie stützten sich auf all jene bürgerlichen Kräfte, die sich von der „Kultur“ ausgeschlossen fanden: Technik, Wirtschaft, Artistik und Schaustellertum sowie die Schauspieler als Produktivkräfte; dazu Frauen unterschiedlichster Herkunft, die „kleinen Leute“, Arbeiter und Angestellte, als Publikum. Das Kino brachte das kulturbildende Moment der „materialistischen“ Kräfte der Ökonomie und Technik zur Geltung, aber auch das „Interesse“ im ästhetischen Wohlgefallen. Im Kino wurde das zur Massenware nivellierte „Kulturgut“ der Groschenromantik und die Ikonik des Kitsches statt unter Aufsicht ein- zur Ansicht aus-gestellt; im Kino feierte der Internationalismus der Moderne Triumphe über den Nationalismus der herrschenden Kultur und die Artistik, die Körperkunst, über die Innerlichkeit. Und schließlich nahm das Kino die Frauen als soziale und kulturelle Wesen außerhalb ihrer familialen Bindung auf. Im Kino funktionierten sie nicht kulturreproduktiv – wie Simmel es wollte –, nicht als Krankenschwestern am Bett der männlichen Kultur, sondern als Teilnehmerinnen, Nutznießerinnen im Prozeß einer auf technischer Basis neu sich entwickelnden Kultur. In diesem Punkt stieß das Kino nicht nur bei den Konservativen auf Abwehr und Verständnislosigkeit.

Das Kino versammelte bürgerliche Kräfte, die in der Geschichte bürgerlicher Öffentlichkeit nicht zu ihrem Recht gekommen waren, und gab ihnen erstmals eine unternehmerische Basis. Es wurde als starke Konkurrenz zum Theater bekämpft, es war aber mehr als eine ökonomische Bedrohung; es stellte eine Konkurrenz um das Erbe bürgerlicher Öffentlichkeit dar, das auch und gerade der liberale Bürger im Theater gewahrt wissen wollte. Ein „Übergewicht“ über die übrigen Bereiche des Lebens gewann das Theater, als sich der Bürger aus der Politik zurückzog beziehungsweise aus ihr verdrängt wurde. Dies traf vor allem auf das liberale Bürgertum zu. Seine „Theatromanie“ und sein Bedürfnis nach Unterhaltung und nach Repräsentation wuchsen in dem Maße, in dem es die Möglichkeit politischer Repräsentation einbüßte. In den traditionellen Bereichen der Öffentlichkeit, Parlament, Universität, Presse, verlor das liberale Bürgertum an Einfluß gegenüber dem sich durchsetzenden politischen und sozialen Konservativismus. Das Theater wird ihm, wie so häufig in seiner Geschichte, wenn auch unter gewandelten Bedingungen, zum Refugium der Selbstdarstellung und -entfaltung. Es erscheint als Ort funktionierender Öffentlichkeit.

Eben als dieser „Ort funktionierender Öffentlichkeit“ wird das Theater vom Kino in Frage gestellt. Nicht nur, weil es die Massen

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an sich zieht, sondern weil es allein noch den Anspruch des Theaters vertritt, eine Vorform politischer Emanzipation zu sein. Das Kino probt die Möglichkeit, die bürgerliche Kultur von der ihr immanenten Restitution feudal-patriarchaler Strukturen zu emanzipieren.

Im Rückblick auf die Geschichte des Kinos hat sich die Übernahme von Formen des Theaters lediglich als Anpassung an bürgerliche Normen dargestellt. Wäre dem von Anfang an so gewesen, hätten sich die Reformer nicht so heftig gegen das „Kinodrama“ gewandt. Das Phänomen der „Verbürgerlichung“ ist in sich widersprüchlich. Neuere Untersuchungen des früheren Kinos, die dieses nicht nur als Vorstufe des später etablierten sehen wollten, haben eine paradigmatisch andere Ästhetik des nicht-narrativen, des nicht-voyeuristischen Films zutage gefördert, eines „Kinos der Attraktionen“. Gleichzeitig fanden auch die ersten Ansätze zum narrativen Film innerhalb dieses Kinos neue Aufmerksamkeit. Diskutiert wurde insbesondere das Verhältnis der Anfänge des Erzählkinos zu Veränderungen der Publikumsstruktur. Auch an den erhaltenen Filmen des frühen deutschen Kinos läßt sich ein Übergang vom „Kino der Attraktionen“ zum narrativen Film ablesen. Aus der Zeit um 1909 sind erste Filme erhalten, die kleine Geschichten erzählen. In ihnen spiegelt sich eine ambivalente Rücksichtnahme auf die Frauen im Publikum: Einerseits gehen diese Filme inhaltlich auf die Wirklichkeit und die wirklichen Probleme der Frauen ein, andererseits verdrängen die Geschichten Formen der Exhibition, deren Appell ans Auge, an die Schaulust, die sich für die Frauen nicht schickt.

Schon 1908 bemerkt die Fachzeitschrift Der Kinematograph Veränderungen, die das pornographische Element im Kino betreffen. Man schreibt sie dem Einfluß der Sittlichkeitsbewegung zu, die jedoch, wie aus den Schriften der Reformer hervorgeht, gegen geschlossene Herrenabende nicht zu Felde zog, wohl aber gegen die Präsentation auch nur eines Hauchs von Erotik vor Frauen. In der Nummer 87 vom 26. August 1908 heißt es unter der Überschrift „Berliner Plauderei“:

„Früher gab es in vielen Kinos mindestens einmal wöchentlich ,Separat-Vorstellungen‘, die freilich gewöhnlich nicht hielten, was sie versprachen. [...] Höchstens, daß in diesen Separatbildern die Liebe eine harmlose Rolle spielte. Weniger harmlose Bilder wurden alljährlich und noch im vorigen Jahre, in einer Kinematographenbude auf dem Schützenfest eines Berliner Vorortes vorgeführt, aber im laufenden Sommer hat dieses Kino bereits einem anderen Platz gemacht, das sich in den vorgeschriebenen Grenzen hält. So ist denn der Kinematograph in Berlin und Umgebung vollständig sittenrein geworden.“

Heide Schlüpmann: „Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos“. Stroemfeld/Roter Stern, Basel und Frankfurt/Main

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