Sanssouci: Vorschlag
■ Zeigt bitte Musicals in allen Berliner Kinos. Reihenweise!! Nur Herz- und Hirnlose können sich den gesteppten Gefühlen entziehen
Mit Fred Astaire auf der Zimmerdecke steppen oder gegen die losgaloppierenden Schuhe um die Wette tanzen. Bei Bubsy Berkeley eines von den hundert Mädchen sein, die an den hundert Klavieren sitzen und sich zu Blütenblättern entfalten. In der Rolle des Waisenmädchens Leslie Caron durch das Paris der großen Maler van Gogh, Renoir, Toulouse-Lautrec toben oder mit Ginger Rogers durch einen Studiotraum in Schwarzweiß von Venedigs Lido schweben. Als kühn-laszive Cyd Charisse in Louise-Brooks-Frisur mit einem 24 Fuß langen Schal den kleineren Gene Kelly einwickeln oder ganz einfach: im Regen tanzen. Eintauchen in eine Reihe von Musicalfilmen aus dem Hollywood der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre: „42nd Street“ (1933), „Top Hat“ (1935), „The Barkleys of Broadway“ (1949), „Royal Wedding“ und „An American in Paris“ (1951), „Singin' in the Rain“ (1952) und und und ...
Mit Lust und Freude hebt das Musical-Genre die Naturgesetze aus den Angeln. Die Schwerkraft wird beim Tanz auf der Decke überspielt; Gegenstände setzen sich von selbst in Bewegung; Ballettgruppen formieren sich zu surrealen Gebilden; impressionistische Gemälde werden zur ausufernden Bühne, Pfützen zu Musikinstrumenten. Nichts ist Natur, alles Dekor; Psychologie und Logik haben hier nichts zu suchen; Farbe, Bewegung, Musik bestimmen das Bild. Das Musical als vollkommen synthetisches Kunstwerk: zu seiner „Natur“ gehört, daß in den entscheidenden Momenten der Dialog in Tanz und Gesang übergeht.
Nur herz- und hirnlose Wesen können sich den gesteppten Gefühlsaufwallungen entziehen. In den Verwandlungen der vorhandenen Welt ist das Musical nicht realitätsfern, es ist Anti-Realität – Traumfabrik pur. Für einen schönen Augenblick werden wir in eine glückseligere Welt getanzt. In ihr leben wir den Traum von der Vollkommenheit, die Utopie von der Beherrschung des Körpers, die Hoffnung auf die Identität von Geist und Ding: „So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein“, schrieb Kleist in seinem Aufsatz „Über das Marionettentheater“, einer vorweggenommenen Hommage an Steffi Grafs Tanz über die Center Courts dieser Welt.
Auch die Musicalstars zeigen, wie frei und seiner selbst sicher der menschliche Körper sich bewegen kann, wie er sprechen und leiden und lachen kann im Knick einer Hüfte, im Schlenkern eines Beines. Den Traum der Vollkommenheit will heute keiner mehr träumen. Das Musical: eine auf die Spitze getriebene Illusionsmaschinerie. Eine Musical-Reihe im Berliner Kino 1995: eine getanzte Illusion gegen die kommerziellen Erwartungen. Anke Leweke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen