: Bremen 1995 – da war Musike drin!
■ So wird's gewesen sein: 1995, ein Jahr kultureller Highlights und Überraschungen/ „Schwarz-Grün“ bringt die Bremer Kultur „auf Vordermann“/ Auf dem Weg zur „Musical-City Nummer 1“/ Ein vorauseilender Rückblick
15.1.1995 Ein neuer Asbestskandal erschüttert die Hansestadt: Das „Siemens-Hochhaus“, u.a. Sitz der Kulturbehörde, wird nach einem Schwelbrand im Papierkorb der Kultursenatorin komplett geschlossen. Neben gesundheitsschädlichen Gasen wurden erhöhte Asbestkonzentrationen gemessen. Senatorin Helga Trüpel zur Presse: „Es war eine Brandbrief der Kunsthalle!“ Kurzerhand zieht die gesamte Behörde in die leerstehenden Räumlichkeiten des „Forum Langenstraße“ ein. Weil aus den verseuchten Büroräumen keinerlei Akten oder Datenmaterial mitgenommen werden dürfen, beginnt in der Kulturpolitik eine Phase „aus dem hohlen Bauch“, wie sich Staatsrat Schwandner freut.
26.1.1995 Höhepunkt der Bremer Literarischen Woche (BLW): Der „subtile Komiker“ Reinhard Lettau erhält während eines feierlichen Festaktes in der Oberen Rathaushalle für seinen von „schmerzlichen Erfahrungen“ diktierten Roman „Flucht vor den Gästen“ den mit 30.000 Mark dotierten Hauptpreis der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung. Der mit 10.000 Mark dotierte Förderpreis geht an den Schriftsteller Günter Grass, „ein Akt später Wiedergutmachung“, wie Dr. Rolf Michaelis, Vorsitzender der Stiftung, betont. Das Grass-Buch „Die Blechtrommel“, die Textvorlage des berühmten gleichnamigen Films, war in den 60er Jahren nicht mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet worden. Am Rande der Veranstaltung beobachten Teilnehmer eine ungewöhnliche freundliche Unterhaltung zwischen Kulturstaatsrat Gerhard Schwandner und Jens Eckhoff (CDU). Daraufhin spekuliert taz-Klatschkolumnistin Rosi Roland über eine grün-schwarze Option für die bevorstehende Bürgerschaftswahl.
2.2.1995 Die Veranstaltungsagentur KPS kündigt ihr 100. Presseinfo zur „Toulouse-Lautrec“-Ausstellung in der Bremer Kunsthalle an.
13.2.1995 Endlich schreibt die HVG (Hanseatische Veranstaltungs-Gesellschaft) den beschränkten Wettbewerb für das heiß ersehnte Bremer Musical aus; auch Vegesack und Pusdorf schmieden bereits eigene Pläne, um sich in die Liste der deutschen Musical-Standorte einzuschreiben. Neben den deutschen Top-Promotern Kurz und Deyhle bringt auch Wirtschaftssenator Claus Jäger (FDP) einen Vorschlag ein: Nachdem sein Vorzeige-Projekt „Space Park“ vollends gescheitert ist, arbeitet seine Behörde fieberhaft an einer sing- und tanzbaren Version von „Raumschiff Enterprise“. „Allein für den Wettbewerb“, strahlt HVG-Geschäftsführer Michael Göbel, „blättern wir 0,8 Mios hin“. Wenn erst die „Enterprise“ im Bremer „Showpark“ lande, werde das Unternehmen „stolze 18,3 Mios“ verschlungen haben – „das kriegen wir alles aus WAP-Mitteln und Lottogeldern dicke wieder rein“, versichert Göbel feurig der Presse.
5.3.1995 KPS meldet den 111.111sten Besucher von „Toulouse-Lautrec“, zufällig Werders Erzpräsident „Franz“ Böhmert. Der Jubelgast erhält zwei Karten (in der Ostkurve) für das nächste Heimspiel der Grün-Weißen (gegen MSV Duisburg). Wegen des anhaltenden Erfolges wird die „Toulouse-Lautrec“-Ausstellung „vorraussichtlich“ bis Jahresende 1996 verlängert.
13.3.1995 In Anwesenheit auswärtiger Pressevertreter (Syker Kreiszeitung) sowie des Wirtschaftssenators Claus Jäger enthüllt die Chefin des Überseemuseums, Dr. Viola König, vor dem Portal ihres Hauses ein kleines Aquarium mit einheimischen Süßwasserfischen. Sie verspricht, bis zur 100-Jahrfeier des Überseemuseums im Januar 1996 im Eingangsbereich des Museums ein gigantisches Aquarium aufzubauen, „falls wir die entsprechenden Sponsoren finden“. Claus Jäger spricht daraufhin von geschätzten 8 Millionen zusätzlichen Besuchern für das Überseemuseum „und das Land Bremen“ und stellt Lottomittel in Aussicht.
15.3.1995 Die nach dem Umzug der Kulturbehörde in das Forum Langenstraße fragliche gewordene Ausstellung „Bremer Silber“ findet allen Unkenrufen zum Trotz statt. „Das geht ideal zusammen,“ schwärmt Staatsrat Schwandner gegenüber Buten & Binnen. Zu Spekulationen, die Behördenleitung habe mehrfach Hamburger von Tellern aus der Ausstellung gespeist, sagte Schwandner vieldeutig: „Ich bin bekanntlich Monarchist.“
22.5.1995 Das Bremer Theater wird den Etat der laufenden Spielzeit um einen Betrag in Millionenhöhe überschreiten. Das erklärt Verwaltungsdirektor Rolf Rempe in einem Vieraugengespräch mit der Tageszeitung taz. Einzelheiten will er nicht nennen, nur Stichworte: Reisekostenabrechnungen, Umbaukosten, rückgängige Besucherzahlen, Computerprobleme beim Ticketverkauf. Am selben Tag sagt Generalintendant Klaus Pierwoß gegenüber dpa: „Ich habe immer gesagt: Subventionen sind Risikoprämien.“ Die Kulturbehörde nimmt zur Sache keine Stellung und weist auf eine „Schmutzkampagne der Opposition anläßlich der bevorstehenden Bürgerschaftswahl“ hin.
12.6.1995 Ein Probelauf des „Klangpfades“ des renommierten Künstlers Rolf Julius, der zwischen Bahnhof und Kongreßzentrum angelegt wurde, führt zu Haarrissen in den Fundamenten von Stadthalle, CCB und Eiskunsthalle. Grund: hochfrequente Schwingungen, die von der Klanginstallation ausgehen. Fachleute gehen von einem notwendigen Totalabriß aus. Claus Jäger läßt sich tags darauf vom „Weserreport“ so zitieren: „Das Areal wäre unglaublich günstig, hier den geplanten Space-Park anzulegen. Ein Planungsstab unter Leitung eines DASA-Ingenieurs wird in zwei Wochen einen Plan vorlegen. Wir suchen noch Investoren.“
13.6.1995 In Anwesenheit auswärtiger Pressevertreter (Syker Kreiszeitung) enthüllt die Chefin des Überseemuseums, Viola König, gemeinsam mit Kultursenatorin Trüpel „die Große Lösung“ des Cinemaxx-Komplexes: Das geplante Kinocenter hinter dem Hauptbahnhof soll nicht nur, wie bereits vorgesehen, Teile der Museumssammlung aufnehmen; auch die dringend notwendige, neue Zentrale der Stadtbücherei wird „demnächst“ mit einziehen. In der vorführungsfreien Zeit sollen demnach die Kinosäle I bis XI dem Leihverkehr dienen, Saal XII nimmt das Magazin auf. Ab 17 Uhr läuft dann der Kinobetrieb zeitgleich mit der Wechselausstellung des Museums, beide programmatisch aufeinander abgestimmt. Eine „Indiana-Jones“-Retrospektive soll den Cinemaxx-Komplex im Frühjahr eröffnen, parallel plant König die Schau „Von Schliemann zu Dürr – Forscherhüte aus drei Jahrhunderten“.
27.7.1995 Die GMD-Krise ist beendet: Die Findungskommission für den neuen Bremer Generalmusikdirektor löst sich nach dreieinhalb Jahren fruchtloser Mühungen, einen auswärtigen Dirigenten zu werben, auf – spontan ergreift ein einheimischer Musikveteran Zepter und Taktstock: „In Ermangelung tüchtiger junger Nachkömmlinge“ ernennt sich Dr. Dr. Rudolf Blaum zum neuen GMD. Blaum führte über 20 Jahre die Geschäfte der Philharmonischen Gesellschaft und des Kunstvereins. Zum Auftakt der neuen Ära dirigiert Blaum den Radetzky-Marsch „in seiner historischen Fassung“ mit Kanonendonner und Bajonettgeklingel.
16.8.1995 KPS verschickt sein 150. Presseinfo: Wegen der „weiterhin stark anhaltenden Nachfrage“ aus dem „internationalen In- und Ausland“ wird im Museums-Shop der Kunsthalle eine neue „Special-Collection Toulouse-Lautrec“ aufgelegt. Neben den bisherigen Toulouse-Lautrec-Seidenkrawatten, -Kochbüchern und -Memohafties können die Besucher nun auch Toulouse-Lautrec-Bärte, -Melonen und -Krückstöcke als Mitbringsel erstehen. „Und in Vorbereitung“, so teilt die schier unaufhaltsame PR-Abt. mit, „ist ein exclusives Eau-de-Toilette, mit dem Duft der Alt-Pariser Gosse!“
1.9.1995 Bremen im Musical-Fieber: „Raumschiff Enterprise“ aus der Feder von Claus Jäger erntet bei seiner Premiere im „Show-park“, der mit Geld aus dem „Rennquintett“ zu einer Art Mondbasis umgebaut wurde, frenetischen Applaus. Die Presse jubelt: „saugeile Spezialeffekte“ (Weser Kurier), „total schrill“ (Prinz), „abgefuckt“ (taz). Das Stück ist auf fünf Jahre ausgebucht, Jäger jubelt: „Damit kriegen wir massenhaft Standort-Effekte und Zuwächse im tertiären Sektor“; dabei verstehe er „ja eigentlich gar nichts von Kultur“. Den nötigen Image-Shift für Jäger kurz vor den Wahlen kann der Erfolg, laut zuverlässiger Umfragen, dennoch nicht bewirken: „Der Wähler hat die Botschaft nicht verstanden“, ächzt Jäger den Journalisten in die Mikrofone, bevor er ins offene Weltall gebeamt wird.
30.9.1995 Nach der Bürgerschaftswahl erste Koalitionsgespräche in Bremen. Unter dem Motto „Alles neu für Bremen“ diskutieren Grüne und CDU über eine mögliche Koalition. Die CDU besteht auf Übernahme des „Schlüsselressorts“ Kultur unter einem Senator Jens Eckhoff (Manager TuS Walle). Dafür bietet die CDU den Grünen das „Superressort“ Ausländer / Frauen / Kirche an (Traumbesetzung: Helga Trüpel, wg. Baby halbtags).
1.10.1995 Nach einem tumultartigen Putsch wird Rainer Mammen zum neuen Kulturchef des „Weser Kurier“ ernannt. Als Hauptgrund nennen die Meuterer, sie seien durch die inzwischen doppelseitenfüllenden Leitartikel des bisherigen Abteilungsleiters Marzluf „praktisch kaltgestellt“ gewesen. Marzluf wird auf eine Kolumne pro Monat heruntergestutzt (Titel: „Sie oder Ich!“), in der er unter dem Pseudonym „Roland Rothermund“ immerneue Haßtiraden gegen die ehemalige Kultursenatorin Trüpel sowie eine gewisse „Rosi, die sau-geile Büchs“ entfesselt. Nach Bekanntwerden von Mammens Coup verläßt die Shakespeare Company in einem malerischen Zug die Stadt.
31.12.1995 Am Vorabend der Hundertjahrfeier des Überseemuseums werden die letzten Rumfässer ins neue Überseerestaurant „Scusi Maledivi“ gerollt. Mit der Einrichtung waren die Bremer Szenegastronomen Ulrich („Mick“) Mickan und Ladislav („Lazi“) Klein betreut worden. Auf der Speisekarte Gerichte wie „Krokodilswürstchen an Omelette Voodoo“. Museumschefin König in einer Pressemitteilung: „Das ist erst der erste Schritt auf dem Weg zu einer Art aufgeklärtem Disneyland!“ Für das nächste Jahr stellt sie die Installation eines riesigen Meerwasseraquariums in Aussicht. König: „Dafür suchen wir noch Sponsoren.“ tom/Bus
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