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Du, Herr Professor?

■ Der frische Wind von 68 ist schon lange abgestanden. Professor Gerhardt Amendt fordert persönliche Konsequenzen: Hört auf mit dem scheinheiligen „Du“!

Wer ist Billy, wer Bob, wer Jim, wer Bonde, Gunhild, Ivar und Klinka? Es sind irgendwelcher Leute Kinder. BilIy könnte Amerikaner aus Fort Worth sein, Bonde ein Findelkind aus Urberach und Gunhild die direkte Nachfolgerin einer Germanenfamilie aus dem rauhwindigen Westerwald. Klinka ist wahrscheinlich aus Lillehammer, weniger schon aus Passau und Kreuth, und Ivar ist das Sorgenkind einer WG in Bremen, weil er den Küchendienst nicht macht. Aber wer weiß das schon? Einen Familiennamen scheinen sie alle nicht zu haben. Hat sie der Klapperstorch vielleicht doch verloren? Aber nein, alles hat seine Ordnung. Wenn auch eine verzögerte. Sie haben alle eine Familie. Sie haben ein Dach überm Kopf und einen Familiennamen. Sie sind alle Kinder der großen Familie IKEA.

Kommunikationsformen sind Ausdruck von Beziehungen, die Menschen in institutionalisierten Strukturen eingehen. Verändern sich die Beziehungen, dann reagieren die Kommunikationsformen darauf. An Reformuniversitäten wie Bremen verflüssigten sich in den 70er Jahren die Formen der Kommunikation. Da gab es Billies, Gunhilds, Tors, Dagmars und viele andere mehr. Einen Familiennamen hatten die wenigsten. Den sie hatten, der kam von draußen: Die rote Uni. Also Billy von der Roten-Uni oder Dagmar von Derotenuni! Ein Etikett gegen einen Familiennamen. Der Genuß, ein designierter Außenseiter zu sein, entschädigt nicht für den Verlust der individuellen Konturen. Doch das Gefühl von Pseudogemeinschaft vermittelt trotzdem eine kuschelige Wärme, die näher zusammenrücken und zugleich von anderen abrücken läßt. Pseudonähe setzt Feinde „draußen vor der Tür“ voraus. Natürlich gab es daneben die gesellschaftlichen Verhältnisse, die scharf zu kritisieren waren.

Die hochschulpolitische Reform der 60er Jahre brachte viele Veränderungen. Die Drittelparität der Lehrenden, Lernenden und Verwaltenden ist schon lange wieder abgeschafft. Aber nicht alles hat zu veränderten Strukturen geführt. Vieles war nur eine trotzige Reaktionsbildung auf die erstarrte Ordinanenkultur, der viele frisch gekürte Hochschullehrer damals gerade entkommen waren. Hochschullehrer zu werden, war für viele, auch für mich, nur in Abgrenzung von den Ordinarien möglich. Alles andere wäre Verrat an der eigenen Geschichte gewesen, am Kampf für die Demokratisierung der Gesellschaft, an der Auseinandersetzung mit den verinnerlichten Elternimagines. Sie vor allem standen für unbearbeitete Geschichte; nämlich für die Geschichte des deutschen Faschismus als unbearbeiteter Vergangenheit.

So mancher Hochschullehrer männlichen wie weiblichen Geschlechts wechselte von einem Tag zum anderen vom kritischen Aktionisten des alten zum machtdotierten Repräsentanten des neuen Hochschulsystems.Und die Ausübung dieser neuen Macht, deren verrottete Manifestationen sie bekämpft hatten, bereitete ihnen Schwierigkeiten. Ich war da keine Ausnahme. Daß ich die Studenten duzen durfte, erleichterte mir die neue Rolle mehr als die Erklärung, daß wir Wissenschaft für „die Mehrheit der Bevölkerung“ treiben würden und eben nicht (nur) für das Kapital. Veränderte Kommunikationsformen sollten diese Schwierigkeiten auf allen Ebenen der Reformuniversität beschwichtigen.

Das Du bedeutet Vertrautheit

Das Duzen drückte mehreres aus: Vertrautheit, politische Gemeinsamkeit, Verantwortung für das Gemeinwohl, symbolische Abgrenzung von rigiden Traditionen sprachloser Konfliktvermeidung, ja sogar gemeinsamen Kampf für die Befreiung von der Geisel kapitalistischer Mehrwertabpressung.

Eine Trennung von Beruf und Freizeit war damals für viele von uns undenkbar. Daß Studenten um 23.00 Uhr nicht nur telefonisch bei ihren Professoren Einlaß begehrten, gehörte zur Normalität. Nicht weniger, daß die Lehrenden für die Studenten kochten. Es gab keinen Grund verheiratet zu sein. Sexuelle Beziehungen galten als Ausdruck dafür, daß die unterschiedliche Machtausstattung der Statusgruppen sich friedlich überwinden ließ. Das sexuelle Abstinenzgebot zwischen Lehrenden und Lernenden schien ohne Nachteil für die minderstarke Fraktion der Abhängigen überwindbar. Die meisten Errungenschaften der Reformära sind inzwischen untergangen. Der Rest wird gerade abgeschafft. Aber vieles ist in abgemilderter Form erhalten geblieben; vielerorts auch das Duzen, trotz seiner untergegangenen Voraussetzungen. Ich halte es für angebracht, offen darüber zu diskutieren, wer mit dem Duzen welche Interessen vertritt und wer mehr damit verdecken will als offen zum Ausdruck gebracht werden kann.

Das Du der Vergangenheit war eingebettet in eine Wunschvorstellung von Hochschulpolitik: Lehren im Dienste der großen Bevölkerungsschichten. Das ist ein Strang, an dem die Statusgruppen schon lange nicht mehr gemeinsam ziehen. Die Reformuniversitäten haben sich so sehr verändert, daß sie sich von den traditionellen mittlerweile nur durch die schlechtere Ausstattung und den fehlenden Mittelbau unterscheiden. An den eigenen Ursprüngen gemessen gibt es keinen Anlaß mehr, am Du als inhaltlich vermittelter Kontinuität festzuhalten. Es sei denn, diese Kontinuität wird halluziniert, damit die Realität verleugnet werden kann. Das aber schlägt auf den Realitätsgehalt der Lehre und die Kommunikationsformen durch. Das „Du-Du“ wäre dann der sozialpsychologische Ausdruck einer halluzinierten Gemeinsamkeit. Das hat schlimme Folgen, von denen ich einige nennen möchte.

Was ist die Du-Du-Form heute? Für die Hochschullehrer ist sie ein Hilfsmittel, ihren grauer und spärlicher werdenden Kopfschmuck zu verleugnen, zu ignorieren, daß sie älter werden und daß die Alterskluft zwischen ihnen und den Studenten unübersehbar wird.

Gemeinsamkeiten sind tot

Das „Du-Du“ in Zeiten der ökonomischen und politischen Krise ist zusätzlich eine Verleugnung der Kluft, die sich zwischen den Studenten und den Hochschullehrern aufgetan hat. Die Gemeinsamkeiten lösen sich in Luft auf. Das „Du-Du“ behauptet auf der hochschulpolitischen Ebene eine Vertrautheit, die nicht mehr besteht. Es kann allenfalls noch um Vertrauensseligkeit gehen. Das „Du-Du“ hat sich zum psychologischen Verhältnis gemausert, das auf der sprachlichen und emotionalen Ebene Nähe vortäuscht, die von der Wirklichkeit schon längst abgeschafft wurde. Ich erinnere mich an eine etwa 45jährige berufserfahrene Studentin, die bereits 1986 sagte, daß alle Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen im Studiengang Sozialpädagogik so ungemein nett seien, daß einfach keine Adresse zu finden sei, wo substantielle Kritik und Unbehagen sich anbringen ließen. Eine vertrauliche Anredeform raube der Kritik jene notwendige Distanz, mit deren Hilfe sie sich erst formulieren und ertragen lasse.

Ich selbst habe 1984 den Erwachsenenstatus der Studenten wieder anerkannt und bin somit seither für die Sublimation eines aggressiven Affekts in der Form der Kritik wieder verfügbar. Ich nutzte ein Forschungssemester, um den Paradigmenwechsel einzuführen. Weniger sublimiert und unbewußte Wahrheiten freigebend, traf mich daraufhin die Kritik mancher Kollegen. Sie hielten mir meinen Gesinnungswandel in echt sozialpädagogischer Helfermanier als Äquivalent einer lebensgefährlichen Kindesaussetzung vor. Es bedurfte einer ausgeprägten Selbstgewißheit meinerseits, um vor diesem Vorwurf nicht zerknirscht in die Knie zu gehen.

Ich erinnere mich gut an meine pampige Antwort, die ich dem Kollegen auf das pädagogisch überladene K.O.-Argument gab: Dies seien erwachsene Menschen. Wenn jemand Kinder haben wolle, dann solle er sie zeugen oder gebären oder sich, wenn das nicht gehe, mit der Unerfüllbarkeit seines Kinderwunsches abfinden. Ich sagte, daß hier die wissenschaftliche Verantwortung für die Lernenden mit „Aufsicht über die eigenen Kinder“ verwechselt werde. Ich bin davon überzeugt, daß das „Du-Du“ ein strukturelles Hemmnis für den Lernprozeß der Studierenden darstellt.

Distanz ist Gnade

Thematisch trifft das besonders zu, wenn es um Veranstaltungen für die helfenden und pädagogischen Berufe geht. Im Gegensatz zur Ökonomie oder Jurisprudenz gibt es „prickelnde Themen“, die hier zur Substanz des Berufsfeldes zählen. Professionalität bedeutet hier die Fähigkeit zur Distanz, des Eigenen sich bewußt zu sein, das im Gegenüber in modifizierter Weise zum Ausdruck kommt. Diese Trennfähigkeit ist die Grundlage von Professionalität. Fehlt sie oder wird sie durch Mitleid ersetzt, so gilt: „La Compassione e la morte della empathia“ – das Mitleid ist der Tod der Empathie. Individuelle Konflikte der Lernenden und der Lehrenden müssen jenseits des Unterrichtsstoffes abgehandelt werden. Das „Du-Du“ schafft eine persönliche Nähe, die die distanzierte Betrachtung der Probleme erschwert. Es ist leichter, „wissen-schaftlich“ über Sexualität, Erziehungs- oderBeziehungs-probleme zu reden, wenn die Beteiligten sich nicht kennen, wenn sie ihre private von ihrer öffentlichen Rede trennen können.

Auf der „Du-Du“-Ebene ist die Erörterung nicht nur brisant. Sie hat zumal etwas Verführerisches, und vor allem entblößt sie die Teilnehmer von jenem Schutz, der sich mit dem „Sie“ verbindet. Mit dem „Du-Du“ fühlt sich jeder berechtigt, so weit in jemanden einzudringen, wie er das gerade für angemessen hält. Scham- oder Schuldgefühle lassen sich dann ungleich schlechter kontrollieren. Das „Sie“ hingegen erheischt einen Respekt für den privaten Bereich, der mit dem „Du“ tendenziell aufgehoben wurde. Wer sich duzen läßt, muß den Respekt für seine Privatheit erst wieder einklagen.

Alle Kommunikation neigt dazu, sich früher oder später in der gefühlsmäßigen Einfärbung der eigenen Familiensituation anzugleichen. Wer sein Verhalten reflektiert, macht diese Erfahrung immer wieder. Die „Du“-Kommunikation beschleunigt die unbewußte Annäherung an die familiale Beziehungsgeschichte. Manche Studenten wollen das ausdrücklich, und es sind keineswegs die Unintelligenten, eher die Bedürftigen und Zukurzgekommenen.

Zwischen einem unbewußten Vorgang und einer konkreten Familienimitation gibt es jedoch Unterschiede. Weil das „Du-Du“ an der Universität weder von einer konkreten Geschichte, noch von konkreten Erfahrungen von Lehrenden und Lernenden getragen wird, entblößt es die Studenten ihrer kulturell-ritualisierten Hülle, die ihren privaten Bereich vor der universitären Öffentlichkeit schützt. Eine „prickelnde Debatte“ kann dann sehr leicht Beschämungen auslösen. Zur wissenschaftlichen Uberlegenheit des Hochschullehrers kommt dann noch die Psychomacht.

Schlimmer als Familie

Wer zwischen den Verlockungen der Gruppenwärme und der Schutzbedürftigkeit seiner Privatheit unentschieden schwankt, also den Primat von Leistung und Konkurrenz an der Universität anzweifelt, der sei auf die Existenz der Notenskala verwiesen. Daß sie in so vielen Studiengängen nicht, nur unvollstän-dig oder mit schlechtem Gewissen angewendet wird, hat Gründe, die mit dem Duzen noch gesteigert werden. Das „Du“ erlaubt es nicht, Leistungen differenziert zu benoten. Die Erklärung dafür ist einfach. Das „Du“ führt zu angenehmen familialen Gefühlsübertragungen; das bedeutet, daß die Lehrenden von den Studierenden als Elternimagines „nachempfunden“ werden. Umgekehrt sehen die Lehrenden in den Studenten Kinderimagines – Bilder, wie sie als Kinder selber waren, wie ihre eigene Kinder sind oder wie sie als Kinder gerne gewesen wären. Weil alle, wie in der Familie, an diese Fiktion glauben, gibt es keinen Grund, daß sich die Lernenden an Hand ihrer Leistungen darstellen. Das Leistungsprinzip, das außerfamiliäre Wurzeln hat, wird der Tendenz nach aufgegeben. „Elterliche Liebe“ verträgt sich nicht mit der Aufreihung der Kinder nach guten und schlechten, zumindest nicht offiziell. Diese undurchschaute Dynamik, verbunden mit der verhängnisvollen Regression durch die Massenuniversität, dürfte der ausschlaggebende Grund dafür sein, daß in „Du-Du“- Lehrveranstaltungen die „liebevolle“ Einheitsnote vorherrscht. Gleiche Liebe, gleicher Notenwert!

Wer hingegen im „Sie“-Modus eine Leistung mit Vier benotet, verweist den Studenten auf fachliche Schwierigkeiten. Das ist alles. Die Bewältigung „der Vier“ bleibt auf der Ebene der Leistungsanforderung. Selbst wer im Du-Du-System „die Zwei“ bekommt, wird nicht ganz zu Unrecht Zweifel daran hegen, ob es Zuneigung oder Leistung war, die die Note bestimmt hat. Es hat demnach einen handfesten Grund, wenn Studenten im „Du-Du“-Modus die volle Notenskala erst gar nicht zu spüren bekommen. Die Hochschullehrer schämen sich sozusagen vorbeugend vor der Beschämung, die sie den Studenten mit Noten zufügen.

In solchen harmonischen Kuschelgruppen gibt es übrigens immer den Sündenbock als Inbegriff des Ausgegrenzten und den Liebling als Inbegriff des Bevorzugten. Wo ein Liebling, da ein Bösewicht – und umgekehrt. Es geht hier um unbewußte Spaltungsmechanismen. Und damit aktualisiert der „Du-Du“-Modus prächtig alle Phänomene und Probleme, die in Gruppen auftreten, deren heimliches Ziel die Konfliktvermeidung ist. Der Preis ist die Konstruktion eines gemeinsamen Feindes außerhalb der Gruppe. Das muß nicht unbedingt eine Person oder eine angebbare Personengruppe sein. In Lehrveranstaltungen kann sich das zum Beispiel in einer stumpfsinnigen Gruppenfeindschaft gegen eine bestimmte Theorie äußern.

Aber selbstverständlich gibt es im universitären Leben neben der Leistungsbewertung Formen der Anerkennung, die äußerst befriedigend sind. Sie unterscheiden sich indes wesentlich von dem unstrukturierten Sättigungsgewinn, den das kindliche Bedürfnis nach elterlichen Liebesbeweisen mit sich bringt. An der Universität findet Anerkennung dadurch statt, daß auf der Ebene von Wissenschaft und intellektueller Scharfsinnigkeit sich Subjekte begegnen: vorausgesetzt die Universität selbst folgt diesem Anspruch. Der Student oder die Studentin, die dem Hochschullehrer „folgen“ und sein Lehrgebäude mit Argumenten ins Wanken bringen können, erfahren ihre eigene Stärke als Unabhängigkeit. Das kann nur leisten, wer sich von den unmittelbaren Liebesbeweisen der Eltern befreit hat. Die angehenden Akademiker haben ein Recht darauf, daß ihnen professionelle Lehrpersonen begegnen und keine Pseudohelfer, die das „Rednerpult“ mit der „Couch“ verwechseln und mit dem Wechsel in die soziale Machtposition des Professors zur Abwechslung selbst mal geliebt werden möchten.

Autonomierstopper: das Du

Viele Studenten haben Angst, wenn sie an die Universität kommen, und Angst und Unsicherheit sind nicht unbedingt eine zuverlässige Quelle für wissenschaftliche Produktivität. Die Universität in ihrem gegenwärtigen Zustand ist geradezu zu einer Institution geworden, die die intellektuelle Neugierde und Autonomie von jungen Erwachsenen zuverlässig untergräbt. Aber es gilt zu unterscheiden. Es gibt eine Angst, die sich vorwiegend an der äußeren Realität orientiert. Das ist zum Beispiel die Angst, den Anforderungen des Studiums nicht zu genügen, sich nicht orientieren zu können, die Angst vor der Konkurrenz der anderen Studenten, auch die Angst vor der übergriffigen Distanzlosigkeit oder kalten Unpersönlichkeit der Lehrenden. Aber diese Ängste haben den Vorzug, daß der einzelne ihren Realitätsgehalt alleine oder mit anderen überprüfen kann. Er kann sie auf jeden Fall bearbeiten. Mitarbeit, Kommunikation, Gruppenbil-ldung und politische Handlung sind die bewährten Mittel, sie zu bewältigen.

Unange-messene Näheverhältnisse können dagegen dazu führen, daß Studenten der Kontakt zur universitären Wirklichkeit entgleitet. Es liegt viele Jahre zurück, daß ich mit einer Kollegin vergebens vor dem Prüfungsraum auf den Diplom-Kandidaten wartete. Der Student erschien nicht – und die Prüfung fiel aus. Keine Stunde später traf ich den Kandidaten völlig irritiert. Er fragte mich sichtbar orientierungslos, warum „ich“ (Gerhard) und „Sibylle“, seine fachliche Prüferin, nicht erschienen seien. Meine Verwunderung und des Studenten Irritation lösten sich schnell auf: Der Student hatte sich zur Prüfung vor „Sibylles“ Privatwohnung eingefunden. Denn Sibylle war „seine“ Hochschullehrerin. Er hatte angenommen, daß sie ihn der alles entscheidenden Prüfung bei ihr zuhause unterziehen würde.

Die Bereitschaft der Lehrenden, Regressivität zu dulden und sogar zu ermutigen, schlägt sich auch in der Abwicklung von Prüfungen nieder. Seit vielen Jahren wird den Absolventen nicht mehr richtig zur erfolgreich bestandenen Prüfung gratuliert. Warum nicht? Der herzliche Glückwunsch zum erfolgreichen Studienabschluß wäre nicht nur Anerkennung: Man war sich so nah, und die Prüfung, der Mechanismus, der die Liebenden trennt, war doch nur ein lästig Ding. Vielleicht haben die Lehrenden auf das Abschiedsritual auch deshalb verzichtet, weil sie die Kontrolle über einen Studenten oder eine Studentin verlieren? Ein Stück Lebensinhalt, ein Stück Nähe.

Postmoderne Ordinarien

Eine abschließende Frage: Ist es gerechtfertigt, das „Du-Du“ der Lehrenden als eine postmoderne Variante der Ordinarienuniversität zu begreifen? Erinnern wir uns, daß die früheren Ordinarien bei aller Jovialität sich recht wenig um „ihre“ Studenten gekümmert haben. Sie interessierten sich für sie allenfalls als Zuträger der eigenen Wissenschaftsproduktion. Für diese Rolle werden Studenten zwar kaum noch eingesetzt, dafür aber müssen sie um so mehr als Zuträger für ein gutes psychisches Alltagsbefinden der Lehrenden herhalten. Sind sie die Statisten für ein professorales „Lebensglück mit Kindern“ an der Universität? lch vermute, daß das „Du-Du“ an den Hochschulen eine ist, die es den Starken gestattet, ihre Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Machtdomäne zu verleugnen und zugleich sich daran zu laben. Es handelt sich quasi um eine verwahrloste Variante der großen gesellschaftlichen Utopien der Gleichheit – allerdings unter ungünstigen Bedingungen. Und noch eins: Das Lernen in wissenschaftlichen Institutionen trägt asketische Züge, die selbstverständlich lustvoll sein können. Die „Sie“-Kommunikation symbolisiert die Anerkennung der Universität als Ort der verantwortlichen Lehre und Forschung und aller, die daran beteiligt sind.

Gerhardt Amendt

Gerhardt Amendt lehrt im Fachbereich 11 an der Universität Bremen. Sein Themenschwerpunkt sind die Theorie der Subkultur und der klassenspezifischen Verkehrsformen. Der hier vorliegende Text erscheint in ungekürzter Fassung im April im Buchhandel: „Wenn alle Welt sich duzt – Zur Verteidigung der Intimität“.

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