: Abwiegelung ist keine Deeskalation
■ Ziemlich schüchtern sind bisher die internationalen Reaktionen auf Jelzins Feldzug im Kaukasus. Wir analysieren, was der Westen, die UNO und die OSZE im Tschetschenien-Krieg tun könnten und sollten...
Ziemlich schüchtern sind bisher die internationalen Reaktionen auf Jelzins Feldzug im Kaukasus. Wir analysieren, was der Westen, die UNO und die OSZE im Tschetschenien-Krieg tun könnten und sollten – was sie aber anscheinend nicht tun wollen.
Abwiegelung ist keine Deeskalation
Beim Budapester KSZE-Gipfel Anfang Dezember in Budapest – russische Kampfflugzeuge hatten bereits den Flughafen der Hauptstadt Grosny und umliegende Dörfer bombardiert – war der Tschetschenien-Konflikt noch ein Tabu. „Ein innere Angelegenheit Rußlands, kein Thema für die KSZE“, ließen die Regierungschefs Clinton, Kohl, Major oder Mitterrand unisono verlauten. Aber auch Tschechiens Havel, der ungarische Gastgeber Horn oder die Vertreter der Baltenrepubliken verweigerten jeden Kommentar zu Moskaus schweren Verstößen gegen die Prinzipien der KSZE bzw. der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit), wie sie seit vorgestern heißt. Ohnehin lag dem Budapester Gipfel mit dem Bosnien-Krieg, den Nato-Plänen zur Osterweiterung und Rußlands Peacekeeping-Rolle im „nahen Ausland“ bereits mehr als ausreichend Stoff für Konflikte zwischen Moskau und dem Westen vor. Und die Rücksicht auf Jelzin als – vermeintlich einzigem – Garanten für eine demokratische Entwicklung in Rußland galt als oberstes Gebot.
Inzwischen ist – mit einiger Verzögerung wegen der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage – die CNN- Toleranzschwelle überschritten. Die Bilder aus Grosny lassen sich auch in Bonn, Washington oder Paris nicht länger einfach negieren. Die Mauer des peinlichen Schweigens ist gebrochen. Die ersten Reaktionen westlicher Politiker lassen allerdings entweder einen Rückfall in Verhaltensmuster des Kalten Krieges befürchten oder sind von Opportunismus und Hilflosigkeit bestimmt.
Unter den Republikanern, die in den USA in diesem Monat die Führung in beiden Kongreßkammern übernehmen, sind nicht nur der neue Vorsitzende des außenpolitischen Senatsausschusses, Helms, oder der Fraktionsführer im Abgeordnetenhaus, Gingrich, von einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber Moskau erfüllt – ganz unabhängig davon, wer dort regiert. Rußlands Verhalten in Tschetschenien hat ihre Vorurteile bestätigt. Die Falken sehen jetzt eine Chance, ihre Forderungen nach Einstellung amerikanischer Finanzhilfe durchzusetzen. Derartige Maßnahmen dürften ihre gewünschte Wirkung allerdings verfehlen. Nicht zuletzt deshalb, weil westliche Finanzhilfen an Moskau bislang ohnehin weit spärlicher geflossen sind, als seit 1991 zugesagt wurde.
Selektiver Umgang mit dem Völkerrecht
„Der Tschetschenien-Konflikt ist ein interner und muß deshalb nicht vor den UNO-Sicherheitsrat.“ Diese gestrige Feststellung von Außenminister Kinkel ist zwar rein formal nicht falsch, zugleich aber ein Beispiel für den selektiven Umgang mit dem Völkerrecht.
Der Bürgerkrieg in Somalia, mit dem sich der Sicherheitsrat in den Jahren 1992 und 1993 intensiv befaßte, unter anderem in Form von Resolutionen nach Kapitel 7 der UNO-Charta (Zwangsmaßnahmen), war ein interner Konflikt.
Das gleiche gilt für Ex-Jugoslawien. Bereits zwischen Ende September und Mitte Dezember 1991 behandelte der UNO-Sicherheitsrat nicht zuletzt auf Drängen der Bundesregierung den Konflikt in Jugoslawien und verabschiedete dazu drei Resolutionen (713, 721, 724). Der UNO-Generalsekretär ernannte im Oktober 1991 einen Sondergesandten für Jugoslawien. Der Konflikt war damals ebenfalls noch ein interner. Die Jugoslawische Föderation existierte noch als Völkerrechtssubjekt, so wie heute die Russische Föderation. Slowenien und Kroatien hatten zwar – wie Tschetschenien im Jahr 1991 – ihre Unabhängigkeit ausgerufen, waren aber bis Mitte Januar 1992 von keinem anderen Staat anerkannt.
Wenn eine Behandlung des Tschetschenien-Konflikts im UNO-Sicherheitsrat nicht opportun erscheint, dann könnte die OSZE den geeigneten Rahmen bieten. Das Verhalten Rußlands ist eine eindeutiger Verstoß gegen Menschenrechtsprinzipien der OSZE, gegen ihre Regeln über den Umgang mit Minderheiten und über den Einsatz militärischer Mittel gegen die Zivilbevölkerung sowie gegen die OSZE-Grundsätze zur Freiheit der Medien. Allerdings haben all OSZE-Prinzipien und -Regeln bislang nur eine politische Bindungswirkung und sind nicht völkerrechtlich verpflichtend.
Dennoch wäre die Feststellung des Verstoßes gegen OSZE-Regeln und die Aufforderung an Moskau, diese Regeln einzuhalten, ein wichtiger politischer Akt. Er würde über den konkreten Konfliktfall hinaus zur Glaubwürdigkeit der OSZE beitragen und wäre damit Voraussetzung für ihre Handlungsfähigkeit in künftigen Konflikten. Die Feststellung der Verletzung von OSZE-Regeln durch Moskau kann durch das ständige Gremium der 53 OSZE- Staaten, den „Rat“ Hoher Beamter der Außenministerien, erfolgen. Jeder Staat könnte im Rat einen entsprechenden Antrag stellen. (Theoretisch könnte sogar eine Sondersitzung der Außenminister einberufen werden, die im Normalfall zweimal im Jahr zu Routinesitzungen zusammenkommen.)
Über die Feststellung der Regelverletzung hinaus könnte der Rat auch die Entsendung von OSZE-Beobachtern oder Vermittlern nach Tschetschenien beschließen. Hierzu müßte die Regierung in Moskau allerdings ihre Einwilligung geben.
Beobachter- oder Vermittlungsmissionen der OSZE war in der Vergangenheit unterschiedlicher Erfolg beschieden. In den baltischen Staaten sowie in einigen Ex-Republiken der Sowjetunion konnten sie in den letzten drei Jahren zur Deeskalation von Konflikten und zu Vereinbarungen zwischen Regierung und Oppositionskräften oder Minderheitengruppen beitragen. Die 1992 nach Serbien zur Beobachtung der Lage der Kosovo-Albaner entsandte Delegation wurde von Präsident Milošević Anfang 1994 wieder des Landes verwiesen. Die Regierung in Ankara schließlich widersprach Ende letzter Woche dem Vorschlag zur Entsendung von OSZE- Beobachtern in die kurdischen Gebiete mit der Begründung, die Menschenrechts- und Minderheitenpolitik der Türkei unterliege bereits ausreichenden internationalen und europäischen Kontrollen. Andreas Zumach, Genf
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