Günstige Festpreise Von Sigrid Bellack

Unser Weihnachten? Tante Minchen war da wie jedes Jahr seit dreißig Jahren. Also, am Abend vor dem Heiligen Abend haben wir uns zuerst mal die „Für Sie“- Postkarte der Deutschen Bahn vorgelesen, Sie wissen schon, die mit der allerliebsten Zeichnung von dem ICE vornedrauf, wo der ICE aussieht wie durchgebrochen. Das haben wir ja zuerst noch auf den schlechten Schwarzweiß-Zeitungsdruck zurückgeführt, weil die Deutsche Bahn uns ja ganz bestimmt nicht eine Anzeige mit einem durchgebrochenen ICE ins Haus schickt, um ihre Leistungen anzupreisen. Tante Minchen war auch ganz gerührt, weil sie doch mit dem ICE gekommen war. Ein bißchen stänkern mußte sie freilich doch, denn ihr Koffer war immer noch nicht da. Es war ja nun schon Heiligabend vormittag, also Sonnabend, und der Koffer war schon Montag von diesem tollen Service „Kuriergepäck – Nie wieder Koffer schleppen“ in Frankfurt bei Tante Minchen abgeholt worden.

Den ganzen Mittwoch hatte eine Verwandte der netten Verwandten schon in der Wohnung auf den Koffer gewartet. Donnerstag war ja dann schon Tante Minchen da, die ja sowieso nicht mehr so gerne alleine ausgeht, und so war es ja weiter kein Problem, daß sie auch den ganzen Tag auf ihren Koffer wartete. Freitag belohnten wir uns, wie gesagt, fürs Warten damit, daß wir uns diese nette Postkarte von der Deutschen Bahn vorlasen. Samstag vormittag wurde Tante Minchen ein bißchen unruhig, weil sie erstens nun schon den dritten Morgen mit demselben Schlüpfer, was ihr sehr unangenehm war, und überhaupt macht sich Tante Minchen gerade zu Weihnachten für uns immer sehr hübsch. Die nette Verwandte hatte nicht die richtige Schlüpferqualität – weiß und gekämmte Baumwolle, geräumig – und die Bluse, die sie Tante Minchen für den Heiligen Abend leihen wollte, wies diese mit der Bestimmtheit einer figurbewußten Dame als mindestens drei Nummer zu groß zurück. Also schickten wir Tante Minchen in die Boutique, wo sie eine hübsche weiße Bluse mit Jabot für nur 49,50 DM erstand. Aber der Heilige Abend wird ja erst heilig durch die Inhalte. Der Inhalt war bisher neben der Weihnachtsgeschichte auch immer Tante Minchens Mohnstollen gewesen. Und der war im Koffer.

Statt der Weihnachtsgeschichte lasen wir uns diesen Heiligen Abend die Broschüre „KurierGepäck“ vor, auf der ein starker Arm vor rotem Hintergrund für prompte Lieferung „garantiert über Nacht“ und „zu günstigen Festpreisen“ warb. Gekostet hatte Tante Minchen das Ganze bisher 28 DM für die Beförderung, 9 DM für eine neue Strumpfhose, 20 DM für ein Pack Schlüpfer im Sonderangebot und 49,50 DM für die hübsche Bluse. Das Wort „Festpreise“ erschloß sich nunmehr in seiner ganzen Bedeutung.

Was aber ganz toll war dieses Weihnachten, und unser Dank gilt hier der Deutschen Bahn aufs innigste, wir hatten unsere Bescherung am dritten Feiertag. Wir hatten also einen ganzen Tag Freude mehr als sonst. Gott sei Dank war der Mohnstollen auch noch nicht ganz verschimmelt, sondern nur zur Hälfte, aber die nette Verwandte kann ja eh schon mal üben, ihre Konfektionsgröße der Größe der Tante anzupassen – nächstes Jahr kommt die Tante nämlich ganz bestimmt wieder.