: Schluckauf im Gehirn
Popeln, Blinzeln, Flattern: Ticks gibt es viele, einen hat wahrscheinlich jede(r). Eine kleine Tickkunde ■ Von Mirjam Schaub
Man kann sie oft beobachten, bei U-Bahn-Fahrten oder in der Warteschlange vor dem Geldautomaten: komische kleine Handlungen und Bewegungen, die so schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. Wer ständig blinzelt, Grimassen schneidet, mit Kopf und Schultern zuckt, seine Hände beschnüffelt oder an den Haaren dreht, grunzt, murmelt oder zwanghaft flucht, hat einen veritablen Tick, wie er im Lehrbuch steht: „plötzlich einschießend, kurzdauernd, unerwartet, stereotyp wiederkehrend ... schwankend in Intensität, Häufigkeit und Art ...“, eine unwillkürliche Bewegung oder Äußerung, „die keinem willentlich vorbestimmten Zweck dient“. Die Bandbreite ist weit gefächert.
Dabei empfinden die wenigsten ihren Tick als störend, und wer keinen hat, der sucht sich einen. Hollywood verpaßt seinen Stars Macken statt Frisuren: ausgetüftelte Film-Spleens für Julia Roberts und Michelle Pfeiffer als Charakterersatz und Wiedererkennungs- Hilfe – wie Hinsetzen mit Verrenkung beispielsweise oder Schraubverschlußöffnen mit Bravour.
Oft fängt es mit Kleinigkeiten und in der Kindheit an: das Stuhlschaukeln bei Tisch, das Zerbeißen von Lippen und Fingernägeln. Problematisch wird es erst, wenn der Spuk beim Erwachsenen wiederkehrt und der Tick zum Zwang wird. Was soll der Unglückliche tun, wenn er seine eigenwilligen Zuckungen beim besten Willen nicht mehr unterdrücken, geschweige denn abstellen kann, ihre Frequenz steigt und die Kollegen starren, lästern oder ihn nachäffen?
Wer bereits im Sekundentakt austickt, leidet in den meisten Fällen zudem unter quälenden Zwangsritualen. Bis zu acht Stunden kann dann eine Morgentoilette dauern. Zigmal kehrt einer um, der – kaum ist die Wohnungstür verschlossen – glaubt, Kaffeemaschine/Herdplatte/Bügeleisen seien nicht abgestellt. Kontrollzwänge, Waschzwänge, sogenannte Putzfimmel, triebhaftes Witzeerzählen, Nasepopeln, Haareausreißen, Merk- und Abzählzwänge: alles das hat den Bereich des bloß Schrulligen und Spleenigen längst verlassen und ist auf dem Weg zum medizinischen Fall.
Erst Mitte des 19. Jahrhunderts stießen französische Nervenärzte auf ein Phänomen, das bald den Namen maladie des tics, Tic- Krankheit, erhielt: George Gilles de la Tourette, Spezialist für Hysterien und auf dem besten Weg zum gefragten Hypnotiseur, übernahm von seinem berühmten Vorgänger Charcot (einem der Lehrer Freuds) den Fall einer adeligen Dame, die seit ihrer Jugend die feine Gesellschaft mit Schreien wie „Merde!“ und „Salaud!“ verschreckte. Tourette machte sich ans Werk, veröffentlichte 1885 eine Fallstudie und wurde in der Fachwelt schnell berühmt. Eines Tages kam eine eifersüchtig Verliebte in seine Sprechstunde. Die Frau, schwere Paranoikerin, jagte dem Arzt eine Kugel in den Kopf und machte so aus ihm selbst einen Fall für die Psychiatrie. Tourette überlebte das Attentat als wunderlicher Mann mit allerlei Manien, Phobien und eben jenen Tics mit „c“, die man seither, gesammelt und zum Krankheitsbild verdichtet, nach im benennt: Tourette- Syndrom, kurz „TS“.
Kaum war der Defekt klassifiziert, erhärtete sich so mancher Verdacht. Gab es nicht quer durch die Weltgeschichte genügend Beispiele für manifestes „TS“? War nicht der römische Kaiser Claudius laut Überlieferung durch unkontrolliertes Lachen, Speichelfluß und ständiges Kopfwackeln bis zur Karikatur entstellt? Onanierte Napoleon nicht abergläubisch vor großen Entscheidungen? Sprach nicht aus Mozarts Briefen an das „liebe Bäsle“ der Hang zur Nachahmung, einem deutlichen Merkmal der Tickerkrankheit? „ ... wenn ich etwa schon bin weck, bekomme ich statt einem brief einen dreck. dreck! -- dreck! -- o dreck! o süsses wort! -- dreck! schmeck! - auch schön! dreck, schmeck! - dreck! - leck - o charmante! - dreck, leck!“
Besessen von der Idee, das kuriose Leiden durch Nomenklatur zu bannen, sorgten sich die Mediziner im Gefolge Tourettes vor allem um die richtige Klassifizierung. Man unterschied funktionelle und periodische Tics, Kriegs- Tics, Scharr-Tics, Kuß-Tics, tonische Tic-Krämpfe ... In Wirklichkeit tappte man über die Ursachen der Krankheit völlig im Dunkeln. Überbordende Phantasie und wissenschaftlicher Starrsinn trieben die Schulen gegeneinander ins Feld. Religiöse Eiferer hielten die Sache für Teufelswerk und empfahlen Exorzismus durch Selbstgeißelung. Moralisten verurteilten die schlechte Erziehung und verordneten die Lektüre des „Struwwelpeters“, eines perfekten Katalogs psychiatrischer Auffälligkeiten in Kinderstuben.
Aufklärer hingegen verhalfen dem Tick als Rebellion gegen die bürgerliche Gesellschaft zu Ehren, zählten mit Rousseau auf die Segnungen der Einsamkeit und rieten zu Milchkuren in den Schweizer Alpen. Vertreter der eben in Mode gekommenen Anthropologie untersuchten das Tick-Verhalten an Meeresengen und in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte. Nur in Auswanderung und strengen Inzestregeln sahen sie Mittel zur Eindämmung des Übels. Für die Freudianer stand – wie immer – fest, daß es sich um die unvollständige Verarbeitung frühkindlicher Konflikte handeln mußte: der Tic als Revanche des unterdrückten Es.
Durchgesetzt hat sich bis heute am ehesten die Hypothese einer primitiven Gebärdensprache. Uralte Bewegungsabläufe werden aus den Tiefen der Basalganglien aktiviert. Diese archaische Gruppe zerklüfteter Nervenzellen diente erstmals in der Evolution Kriechtieren als Verhaltens-Blaupause und heißt deshalb auch kurz Reptilhirn. Für Sekunden ist der Betroffene mit einer zoologisch grauen Vorzeit kurzgeschlossen. Dabei gerät jede Koordination von Sinneseindrücken, Handlungsmotiv und Motorik außer Kontrolle. Infolge des gestörten Hirnstoffwechsels und der Überempfindlichkeit gegenüber dem Neurotransmitter Dopamin dreht sich der Körper wie ein aufgezogener Automat hektisch im Leeren und explodiert immer wieder in einer Serie von Tics. Ob schwerer Waschzwang, leichter Blinzeltick oder veitsartiger Tanz: immer handelt es sich um diesen „Schluckauf im Gehirn“, wie Judith Rapoport vom National Institute of Mental Health in Washington die Wiederkehr der uralten Instinktprogramme nennt.
Zum Vorschein kommen die meisten Tics erstmals im siebten Lebensjahr, Männer sind drei- bis viermal häufiger betroffen als Frauen. Psychopharmaka wie Haloperidol und Verhaltenstherapien lindern bislang bestenfalls die schlimmsten Symptome, heilen tun sie nicht. Der amerikanische Nervenarzt Oliver Sacks untersucht das Phänomen seit über zwanzig Jahren, das es nur zu geben scheint, wenn man es sehen will. An einem einzigen Tag im Jahr 1971 begegneten ihm auf New Yorks Straßen drei Menschen mit dem Tourette-Syndrom – zuvor war er im festen Glauben, das Syndrom trete mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million auf ... Seither stößt Sacks auf immer neue Fälle. Und niemals zeigen zwei Patienten exakt gleiche Symptome, ihre Tics sind unverwechselbar wie sie selbst.
Seinen jüngsten Fall hat Sacks kürzlich im New Yorker beschrieben: einen Chirurgen aus British Columbia, der trotz seiner Ganzkörper-Tics mühelos Operationen ausführt und einmal wöchentlich Anatomievorlesungen hält. Solange er einer konzentrierten Beschäftigung nachgeht, lassen die Tics ihn in Ruhe. Sinkt aber die Aufmerksamkeit, geht es sofort wieder los: seine Hände tippen an Wände und Gegenstände, er hüpft, bückt sich jäh und flattert mit Armen und Beinen.
„Ich bestehe nun mal aus Tics“, sagte Witty Ticcy Ray, Sacks erster Patient, den er in seinem Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Regenschirm verwechselte“ beschrieben hat. Ray lehnt jede Behandlung ab, weil er die Tics als Teil seiner Persönlichkeit begreift und behütet. „Nehmen wir an, Sie könnten die vollkommen wegbekommen – was würde von mir übrigbleiben?“
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