: Krise im Grünen Wald
SG Wallau-Massenheim kämpft mit personellen, sportlichen und ökonomischen Defiziten ■ Von Matthias Kittmann
Fährt man auf der A 66 von Frankfurt Richtung Wiesbaden, trifft man bald auf ein großes schwedisches Möbelhaus. Dort biegt man rechts ab und fährt dann die Hauptstraße immer geradeaus bis zur Gaststätte „Grüner Wald“. Dort, in der Vereinskneipe des Handball-Bundesligisten SG Wallau/Massenheim, kann man sie sitzen und reden hören. Reden über Dinge, die, wie sie meinen, verändert werden müssen, und darüber, wer eigentlich schuld ist, daß es nicht läuft bei der SG.
Der Dezember, so hatte Manager Burckhard Keller prognostiziert, hatte der „Monat der Wahrheit“ werden sollen. „Die entscheidende Meisterschaftsphase“ mit vier Auswärtsspielen und drei Heimspielen, darunter das gegen Meister THW Kiel. Es wurde der Monat der Wahrheit – und zwar ganz gehörig. Zu Beginn hatte der Pokalsieger aus Wallau als Tabellenzweiter nur zwei Punkte Rückstand, am Ende waren's neun, und lag man auf Platz zehn. Alle Auswärtsspiele verloren, gegen Düsseldorf zu Hause einen Vorsprung von achten Toren noch verspielt, und dann war gegen Kiel die Zeit reif für Murphys Gesetz. Denn obwohl auf der Anzeigentafel nach Spielschluß 17:17 stand, hatte Wallau/Massenheim eigentlich 17:16 gewonnen – nur hatte es keiner gemerkt. Beim Stand von 14:14 hatten die Schiedsrichter ein Kieler Tor nicht gegeben, der Torezähler auf der Zeitnehmerbank, ein bißchen im Streß, es aber auf Liste und Anzeigentafel vermerkt. Den Gastgebern kam das zwar etwas seltsam vor, doch wollte man vor einem Protest erst die Videoaufzeichnung abwarten. Als die schließlich vorlag, war es allerings zu spät. Der Deutsche Handballbund (DHB) befand, nicht ohne ein gewisses Bedauern zu bekunden, daß leider die Protestfrist abgelaufen sei. Obwohl dieser Vorfall nur unwesentlich selbst verschuldet war, schlug er den nervlich angeschlagenen Hessen schwer aufs Gemüt. Schließlich sind die Wallauer nicht irgendwer, sondern die Mannschaft der frühen 90er Jahre. Deutscher Meister 1992 und 1993 wurde man, den DHB-Pokal nahm man zweimal im Vorbeigehen mit, 1992 auch den IHF-Pokalsieg gegen SKA Minsk. Und ein Jahr später verlor man erst eine Sekunde vor Schluß das Meister-Cup-Finale gegen Badel Zagreb.
Der Macher heißt Bodo Ströhmann und ist der König von Wallau. Aus der Bezirksliga hat der Marmorfabrikant den Klub einst in die Bundesliga hochgeboxt. Ohne ihn lief nichts. Er schloß morgens die Tür auf, bastelte die Mannschaft zusammen, sammelte die Bälle ein, besorgte das Geld und machte abends das Licht aus. Auf dem Höhepunkt des Erfolges genoß er es, die Konkurrenz in Angst und Schrecken zu versetzen: „Ich stehe dazu: Wir wollen alle drei möglichen Titel“, pflegte er zu versichern, „und wenn die jetzt einen vierten einführen würden, dann würde ich sagen, den holen wir auch noch.“ Doch vor einem Jahr knirschte es erstmals im Getriebe. Irgend etwas hatte Ströhmann vergrätzt, und plötzlich sagte er: „Ich hör' auf.“ Das tat er zwar nicht wirklich, aber die Wallauer Szene war verunsichert. Auch die Zusammenarbeit mit Velemir- Klaij-Nachfolger Heiner Brand lief nicht wie erhofft, so daß schon frühzeitig für die nächste Saison ein neuer, alter Mann angeheuert wurde: Der Schwede Björn Jilsen. Er hatte Wallau als Spieler 1987 fast alleine in die Bundesliga geworfen. Sein bester Kumpel von damals, Burckhard Keller, wurde sportlicher Manager. Eine scheinbar ideale Lösung, die auch die Innovationsfähigkeiten der „One- Man-Show“ dokumentieren sollte. Doch die Verantwortlichen unterschätzten die anstehenden Probleme. Der Vorteil, eine eingespielte und „abgezockte Truppe“ zu haben, wie einst der Leutershausener Trainer Jürgen Hahn gelobt hatte, verkehrte sich ins Gegenteil. Denn über zwei Jahre war es praktisch keinem jungen Neuzugang gelungen, in der Mannschaft Fuß zu fassen. Derweil sind die Stars älter geworden. Von den Leistungsträgern ist lediglich Abwehrspieler Mike Fuhrig „erst“ 28 Jahre alt, Martin Schwalb, Mikael Kaellman und Stephan Schoene sind 30 oder älter, Torhüter Peter Hofmann zählt gar schon 37 Jahre. Nur drei Spieler sind unter 25. Nun schützt Alter nicht vor Leistung. Doch wer alles gewann, hat in den entscheidenden Momenten vielleicht nicht mehr den richtigen Biß. Dies wird von Beobachtern vor allem Stephan Schoene, Ralf Heckmann und Volker Stoschek unterstellt. Von solchen Schuldzuweisungen hält Trainer Björn Jilsen, mit seinen 35 Lenzen kaum älter als die Spieler, dagegen überhaupt nichts: „Das macht doch überhaupt keinen Sinn, einzelne an den Pranger zu stellen. So was macht den Spielern nur Angst, und sie verlieren erst recht ihr Selbstvertrauen.“ Der Mann ist es aus Schweden gewöhnt, Probleme gemeinsam anzugehen und an ihrer Lösung hart zu arbeiten.Statt dessen wird im „Grünen Wald“ lieber darüber spekuliert, ob vielleicht zwischen dem Trainer und dem unumstrittenen Star und Kapitän der Mannschaft, dem Finnen Mikael Kaellmann, atmosphärische Störungen herrschen. Für solche Gerüchte im Umfeld hat Jilsen kein Verständnis: „Wir sprechen eine Sprache“, sagt er und meint nicht nur das ihnen gemeinsame Schwedisch. Ein Hauptproblem sei, findet der Coach, daß sich einige Akteure mit der Eigenverantwortlichkeit schwertun. Er will an den Punkt zurückkommen, wieder von Spiel zu Spiel zu denken: „Unser Tief fing damit an, daß schon wieder alle vom Meistertitel geredet haben.“
Trotzdem soll sich für die nächste Saison einiges ändern. Schon aus finanziellen Gründen. Zu viele verdienen zu viel für nicht immer angemessene Leistung und das nicht nur bei der SG, sondern in der gesamten Liga. Außer Tabellenführer Kiel klagt nahezu ein jeder über hohe Ausgaben und geringere Einnahmen. Mit 2.000 Zuschauern pro Heimspiel können keine Spieler mehr bezahlt werden, die oft mehr als 200.000 Mark pro Jahr einstecken.
Im Oktober hatte Ströhmann schon mal gedroht, die Mannschaft zurückzuziehen, wenn der Handball nicht professioneller vermarktet werden könne. Aber Ströhmann wäre nicht Bodo I. von Wallau, wenn er nicht schon wieder um zwei Schritte voraus wäre: „Wir haben noch mal alles knallhart durchgerechnet. Unsere Finanzierung ist für die nächsten zwei Jahre gesichert – und zwar mit einem Top-Team.“ Jetzt muß man nur noch diese Saison durchstehen.
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