„Njet informazii“, sagt der Hauptmann

■ Wie der Moskauer Militärflughafen Tschkalowsk den Tschetschenien-Krieg verbirgt

Moskau (taz) – Moskaus Ringautobahn ist ein Fahrvergnügen. Lichter überall, es gibt Leitplanken, der Asphalt ist vom Schnee freigeräumt. Noch vor Wochen war diese Umgehungsstrecke eine Todesfalle, stockdunkel, ohne Markierungen, übervölkert von Geisterfahrern. Moskau feierte das Licht wie einen Schöpfungsakt.

Diese Nacht wird der Milizionär schroff. Belehrungen folgen auf Belehrungen. Der Führerschein wird einkassiert. „Fragen Sie nach, wo er landet. Wohnen Sie am Subowskij Boulevard 4?“ Da liegt das russische Außenministerium. Eine Groteske, wäre da nicht die Angst. Seitdem in Tschetschenien Krieg herrscht, lungern um Moskau Soldaten mit MPs an Straßensperren herum, schweigen und paffen. Mit einem Kaukasier finden sie gerade ein Übereinkommen: Er zahlt und darf weiter. Angeblich stehen sie ihretwegen auf Posten.

Die Fahrt geht Richtung Militärflughafen Tschkalowsk. Die neue Karte in lateinischer Schrift weist weiße Flecken auf. Bis auf den heutigen Tag hütet Rußlands Militär offene Geheimnisse. Wald tarnt den Flughafen. Betonzaun ist zu sehen, aber keine Menschenseele. Hier sollen Leichen in Bleisärgen aus dem Kaukasus eingeflogen werden. Am Haupttor friert ein Posten im Schnee, er ist sogar dankbar für eine Unterhaltung, doch sehr hilfreich ist er nicht. Fragen zu den Transporten läßt er gar nicht zu, wird mißtrauisch.

Da öffnen sich plötzlich die Eisentore. Langsam schieben sich Lkws mit Anhängern und Rotlicht hinaus durch den Schnee. Werden die Särge bei Nacht und Nebel entsorgt? In Rußland ist immer an Hintereingängen mehr zu erfahren. Also geht es einige Kilometer weiter, an die Frachteinfahrt.

In einer kleinen Bude sitzt ein Hauptmann, durch die Fensterscheibe ist ein winziges Zimmerchen mit Wandgemälden halbnackter Schönheiten zu sehen. Der Hauptmann telefoniert. Ohne aufzuschauen, stellt er offenbar eine unendlich lange Liste zusammen.

Gleich die erste Frage irritiert ihn: Was soll das heißen, ob die Maschine aus Tschetschenien bereits angekommen sei? „Und woher wissen Sie, daß ihr Bruder dabei sein soll ...“ Entdecken sie den Schwindel? Na und? Weder Verstoß noch Übertretungen liegen vor. Noch darf man sich frei bewegen. Aber es dauert und dauert. Gewartet wird auf dem Waldweg vor der Einfahrt, gelegentlich passieren Krankenwagen. Ferne Einfluglichter röten die Nacht.

„Die Flieger wissen nicht, was sie transportieren ...“

Der Hauptmann wird unwirsch. Er sei kein Informationszentrum der Regierung, meint er. Er weiß auch, daß jenes Zentrum keine Informationen herausgibt. Auf seinem Schreibtisch liegt eine aufgeschlagene Zeitung mit einer fetten Schlagzeile: „Die russische Regierung lügt“.

Selbstverständlich versteht er, sagt der Hauptmann, aber helfen könne er nicht. „U nas njet takoj informazii“, sagt er: Wir besitzen keine derartige Information. Das ist seine ständige Antwort auf andauernde Anrufe. Viele Leute suchen ihre verwundeten, vielleicht gefallenen Verwandten. Die einzige Informationsquelle ist dieses „heiße Telefon“, mit einer im Fernsehen bekanntgegebenen Nummer. Aber da kriegt man immer nur die gleiche Antwort: „Njet informazii“.

Der Hauptmann bringt viel Verständnis auf, kann aber nur wenig erzählen. „Schauen Sie selbst, das sind alles Listen der ein- und ausgelassenen Autos, mit den Krankenwagen für die Verwundeten und den anderen für ...“, hier zögert er: „Für eine andere Aufgabe“.

Die Listen sind sehr lang. Ein Oberst ruft an und diktiert eine weitere. Mehrere Krankenwagen warten bereits auf dem Flughafengelände, noch mehr Wagen sollen eingelassen werden. „Wir haben keine Namen“, sagt der Hauptmann. „Auch die Flieger wissen nicht, was sie transportieren: die Verwundeten oder bereits ...“ Er bricht ab. Er könnte auch einen Sohn in Tschetschenien haben.

Es hat zu schneien begonnen. Eine halbe Stunde vergeht. Punkt Mitternacht hebt sich der Schlagbaum. Eine Kolonne Krankenwagen biegt Richtung Hauptstadt ab, im Schrittempo, lautlos im blauen Wetterleuchten.

Kurz vor Moskau verbaut wieder eine Eisensperre mit Rotlicht die Weiterfahrt. Mit MP und Stock weist der Milizionär den Weg in seine Bude. Er zeigt kein Interesse an Erklärungen. Er belehrt einfach. „Woher?“ Aus Deutschland. „Nein jetzt?“ Zu Gast auf der Datscha eines australischen Kollegen in Posjelok Swesdnjij ...

Zehn Minuten vergehen. „Machen Sie, daß Sie wegkommen“, sagt der Milizionär, „und lassen Sie sich hier nicht mehr blicken.“ Die Krankenwagenkolonne ist natürlich längst über alle Berge. Klaus-Helge Donath,

Boris Schumatsky