piwik no script img

Ein Hilfeschrei, der andern wehtut?

■ Der Fall des Marcus S. wird eine neue Diskussion über Kinder- und Jugendpsychiatrie auslösen

Die vom Haftrichter geforderte geschlossene Unterbringung des 14jährigen Marcus S. stellt die Hamburger Psychiatrie vor ein kleines Problem. Eine geschlossene Jugendpsychiatrische Abteilung gibt es in ganz Hamburg nicht. „Wir sperren keine Kinder ein“, sagt Marion Schafft, die Sprecherin der Uniklinik Eppendorf, die neben einer geschlossenen Erwachsenenabteilung auch über eine offene Abteilung für Kinder- und Jugendliche verfügt.

In der dortigen Abteilung wurde gestern eine Sonderbesprechung zum Fall des 14jährigen abgehalten. Der leitende Professor Peter Riedesser wollte gegenüber den Medien keine Stellung nehmen, wohl um sich die Möglichkeit, später als Gutachter zu fungieren, nicht zu verbauen.

Wahrscheinlich wird der Junge vorübergehend in der geschlossenen Erwachsenenabteilung untergebracht und durch die Jugendpsychiatrie betreut. Das UKE sei durch ein entsprechendes Abkommen mit der Gesundheitsbehörde verpflichtet, auf dieser Station Kinder unter 14 Jahren aufzunehmen, wenn sie für die Allgemeinheit oder für sich selbst eine Gefahr darstellen, sagt Charlotte Köttgen vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Amtes für Jugend. Da die geschlossene Unterbringung von Kindern sehr selten vorkommt, sei es nicht machbar, dafür eine eigene Station vorzuhalten.

Als vor gut zwei Jahren schon einmal zwei sogenannte „Crash-Kids“ für kurze Zeit in die Erwachsenenstation des UKE eingeliefert wurden, hatte dies allerdings beträchtlichen Wirbel verursacht. Der damalige Oberarzt sprach sich öffentlich dagegen aus, weil er meinte, die Kinder seien schlicht kriminell und nicht psychisch krank. Die Äußerung hatte einen heftigen Expertenstreit zur Folge.

„Man kann davon ausgehen, daß Kinder das reproduzieren, was sie in Familien selbst erlebt haben“, sagt die Kinderpsychiaterin Köttgen. Wenn ein Jugendlicher mit Gewalt reagiere, sei fast immer etwas in der Vorgeschichte passiert, das dies ausgelöst hat. Köttgen: „Kinder setzen ihre Erfahrungen unmittelbar um.“ Aggression sei wie Depression ein Hilfeschrei von Kindern, „nur daß er den anderen wehtut und schwerer zu tolerieren ist.“ Denkbar sei, daß Fernsehfilme zu solchen Taten animieren, dennoch: „Ein Kind, daß nie Gewalt erfahren hat, wird in der Regel nicht mit dem Messer losgehen“.

Obwohl sie sich zum Fall Marcus S. nicht äußern könne, da sie ihn nicht kennt, plädiert Köttgen in jedem Einzelfall grundsätzlich dafür zu prüfen, „welche Vorgeschichte und welche Motive vorliegen“, und ob man mit den Problemen therapeutisch umgehen könne. Köttgen: „Das ist sicher nicht in zwei Wochen zu erreichen, sondern nur durch eine längere Therapie“.

Doch es ist zu befürchten, daß das öffentliche Entsetzen den Ruf nach schnelleren Erklärungen und die Forderung nach Strafe und geschlossener Unterbringung statt pädagogischer Therapie wieder laut werden läßt. In einer Agenturmeldung wurde die Einzeltat des Marcus S. in einem Atemzug mit kurdischen Kindern, die am Hauptbahnhof dealen, genannt.

Andererseits besteht Hoffnung, daß sich auch bei Strafverfolgungsbehörden ein Bewußtseinswandel bemerkbar macht: „Einsperren zerstört mehr, als es hilft“, sagt beispielsweise der Jugendbeauftragte der Hamburger Polizei, Martin Bähr, „der Schutz der Gesellschaft ist weitestgehend gewährleistet“. Haftbefehle gegen Jugendliche dürften nur das letzte Mittel sein. Vorher gibt es nach Bährs Ansicht eine ganze Reihe von Maßnahmen, die besser geeignet sind, um positiv auf jugendliche Straftäter einzuwirken, so zum Beispiel der Täter-Opfer-Ausgleich.

Die Staatsanwaltschaft sieht die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten ebenfalls als völlig ausreichend an. „Jugendgerichtsgesetz, Kinder-Jugend-Hilfegesetz, Strafprozeßordnung und Strafgesetzbuch sind die Kochbücher mit ausreichend Rezepturen“, meint Oberstaatsanwalt Jürgen Detken, einer der Leiter der Jugendabteilungen der Hamburger Staatsanwaltschaft, und fügt hinzu: „Es kommt dann darauf an, was die Köche daraus machen.“

Kaija Kutter/lno

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen