: Schwarz- grüne Verwandtschaft im Geiste
Trotz aller verbalen Abgrenzung teilen Grüne und Konservative ein Politikmodell: die dezentrale Gemeinschaft, die sich ebenso im alternativen Milieu wiederfindet wie in der katholischen Soziallehre ■ Von Sibylle Tönnies
Eine der spannendsten Entwicklungen des letzten Jahres ist die Annäherung zwischen den Grünen und der CDU. Die Verbindung zwischen der alternativen und der konservativen Gesellschaftsauffassung hat objektiv zwar schon immer bestanden: was in den siebziger Jahren unter dem Slogan „Small is beautiful“ propagiert wurde, entsprach ganz der katholischen Soziallehre, die von der CDU vertreten wird. Damals aber war es unmöglich, einen Grünen auf diese objektive Verwandtschaft anzusprechen: man wollte ideologisch mit den Ausbeutern nicht unter einer Decke stecken und stellte sich blind für die Übereinstimmungen.
Inzwischen hat man das Stichwort Subsidiarität als Brücke entdeckt, dieses Wort, mit dem 1931 in der päpstlichen Enzyklika „Quadrogesimo anno“ der Staat in seine Schranken gewiesen wurde. Nach dem Subsidiaritätsprinzip ist die Gesellschaft aufgebaut wie eine Zwiebel, bei der verschiedene Häute um einen Kern, das Individuum, liegen. Löst dieses seine Probleme nicht selbst, so fallen sie in die Verantwortung der nächstliegenden Schicht: die Familie, die unmittelbare Gemeinschaft; als nächstes ist die Nachbarschaft zuständig, die Kirchengemeinde, und erst im letzten Notfall, wenn alle dazwischenliegenden Schichten versagt haben, kommt die Aufgabe auf den Staat zu, der lediglich die äußerste Haut bildet. Niemals in erster Linie, sondern immer nur hilfsweise ist der Staat nach dieser Idee zuständig (subsidere [lat.] bedeutet, „daruntersitzen“ und „helfen“). Auf diese Weise hat die Kirche ihren Anspruch abgestützt, in eigener Verantwortung (wenn auch auf Staatskosten) Sozialarbeit zu betreiben, denn die Kirche ist in diesem Konzept eine Schicht, die enger um das Individuum herumliegt als der Staat.
Das Subsidiaritätsprinzip ist den Grünen sympathisch, weil es die Stärkung der Gemeinschaft verspricht. Dieser soziologische Begriff wurde in der Jugendbewegung populär; er drückt bei wertender Verwendung die Bevorzugung des intimeren Zusammenhangs organischer Einheiten gegenüber den kalten gesellschaftlichen Verbindungen aus. Die Sichtweise wird begünstigt vom ganzheitlichen Denken, das auch mit der Jugendbewegung aufkam und dann im Nationalsozialismus eingesetzt wurde. Dieses Stichwort, das zunächst von Anthroposophen und anderen Esoterikern wieder aufgegriffen wurde, spielt jetzt auf der Wirtschaftsseite der Zeitungen eine Rolle: Es hilft, das Trennende, das in dem Antagonismus zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zum Ausdruck kommt, zu überwinden und den Betrieb zu einer Gemeinschaft zusammenzuschweißen.
Die dezentralen, gemeinschaftsbezogenen, ganzheitlichen Tendenzen, die den Konservativen und den Aussteigern gemeinsam sind, können sich erst zusammentun, seit der Sozialismus zusammengebrochen ist und die Illusionen, die auf eine zentral geleitete gerechte Ordnung ohne die freie Wildbahn des Marktes hofften, gänzlich zuschanden gingen. Bisher hat die Herkunft der Grünen aus der Studentenbewegung das Zusammengehen mit den Konservativen verhindert, und nach wie vor betonen sie „die politische Nähe bis hin zur Übereinstimmung mit der Sozialdemokratie“ (Antje Vollmer). Die Übereinstimmung liegt in dem sozialen Gerechtigkeitsanspruch und der Orientierung an der Gleichheitsidee.
Es ist die Frage, ob diese vom Sozialismus herkommende Gemeinsamkeit stärker ist als die mit den Konservativen geteilten Tendenzen. Denn die Grünen sind von den SPD-Genossen durch ein weit zurückreichendes Ressentiment getrennt. Als sich die grüne Bewegung Mitte der 70er Jahre bildete, waren ihre Mitglieder typischerweise Linke, die mit der Sozialdemokratie nichts zu tun haben wollten. So unterschiedlichen Strömungen sie auch entstammen – sie befanden sich in großem Abstand zu den gemäßigten, ans Establishment angepaßten Jusos, die sie als „Revis“ leise verachteten. Von ihnen unterschieden sich die späteren Grünen dadurch, daß sie sich ihre bürgerlichen Berufs- und politischen Karriereaussichten absichtlich erschwerten, während sich die Revis den zuverlässigen Seilschaften anschlossen, die heute den SPD-Filz ausmachen. Dieser Riß ist viel feiner, aber auch viel schärfer als die Kluft zur CDU, mit der man damals überhaupt nichts zu tun haben wollte und deshalb jetzt viel unbefangener umgehen kann. Christian Ströbele hat bei der Zeichnung eines Persönlichkeitsbildes von Lafontaine im Spiegel einmal sehr scharf seinen späten Unmut über die Jungsozialisten von 1968 geäußert: Sie flirteten mit der sozialistischen Rebellion, aber nur, soweit sie sich dabei nicht schadeten.
Aus dieser Zeit kommt auch schon die Abneigung gegen den sozialistischen Zentralismus: Viele spätere Grüne gehörten maoistischen Organisationen an, und darin zeigte sich schon die Richtung auf Gemeinschaft: Im Unterschied zum sowjetischen System versprach der Maoismus Dezentralisierung, Pflege des Kleinen, Vertrauen auf die eigene Kraft: „Laßt hundert Blumen blühen.“ Vom Sozialismus befreiten sich diese Tendenzen nach 1975 in der Wende zum Anarchismus, die viele bewußt vollzogen haben – „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!“ –, die aber unter diesem Begriff nicht so deutlich in Erscheinung trat, wie es der Sache nach angemessen gewesen wäre. Der Begriff Anarchismus begründete ja die Verwechslungsgefahr mit dem Bombenterror der RAF, die mit Anarchismus aber gar nichts zu tun hatte, denn sie war leninistisch orientiert. Die anarchistische Utopie andererseits hat ein sehr friedliches, geradezu kleinbürgerlich-harmonisches Gesicht; sie lebt von der Selbstregulierungsidee.
Diese Idee hat um 1980 herum ihren großen Siegeszug begonnen. Sie hat sich nicht auf die Aussteiger beschränkt, sondern ist in alle Gebiete eingedrungen; unter dem Stichwort „Autopoiesis“ beherrscht sie die systemtheoretische Philosophie und hat auch da die Funktion, Staatstätigkeit und rechtliche Bindung zurückzudrängen und den Prozeß der Deregulierung einzuleiten; sogar die Chaos- Theorie hat Eingang in die Lehre von der Gesellschaft gefunden mit der Behauptung, daß diese am besten quasi-organisch in fruchtbarer Ungeordnetheit funktioniert.
Bei diesem nicht nur Schwarz und Grün, sondern den Zeitgeist insgesamt kennzeichnenden Vorgang sind die Sozialdemokraten ideologisch abgehängt. Die Jusos haben auf „Stamokap“, den Staatsmonopolkapitalismus, der den Übergang zum zentralisierenden Sozialismus erleichtern sollte, gesetzt, und hat man auch schon lange eingesehen, daß der Zug der Zeit in die Gegenrichtung geht, so hinkt man eben nur hinterher. Die Genossen können sich ihm nur anpassen um den Preis der Gesichtslosigkeit, für die Scharping sein Antlitz hinhält.
Dabei wäre eine gesellschaftliche Kraft nötig, die ein scharfes Auge für die Mißbrauchsmöglichkeiten der neuen Ideologie hat. Es ist schade, daß die PDS so eine schlechte Herkunft hat und sich so schlecht benimmt; sie könnte diese Aufgabe sonst erfüllen. Denn tatsächlich liegen gefährliche Mißbrauchsmöglichkeiten in der Verehrung der Subsidiarität, der Gemeinschaft, des Ganzheitlichen und der organischen Selbstregulierung. Die schönen Ideen können durchaus zynisch genutzt werden und sind auch so genutzt worden. Unter dem Stichwort „Subsidiarität“ hat man hegemonistische Kirchenpolitik betrieben, unter dem Stichwort „Gemeinschaft“ hat man eine überintegrierte Volksgemeinschaft geschaffen, unter dem Stichwort „ganzheitliches Denken“ hat man die gesellschaftlichen Antagonismen gewaltsam unterdrückt.
Diese Gefahr zeigt sich wieder: Die systemtheoretische Selbstregulierungsbehauptung, das ganzheitliche, auf Gemeinschaft ausgerichtete Denken findet man auf praktische Fragen angewandt in Texten, wie sie in der 1. Klasse des ICE vom Gepäcknetz herabbaumeln. Diese populär-philosophischen, wirtschaftstheoretischen Texte lullen den Leser mit der Vorstellung von heilbringenden, quasi- biologischen Automatismen ein, die im Spiel von autonomen Systemen freiwerden. Solche Systeme sind Betriebe, solange sie keinen sozialrechtlichen Bindungen unterliegen. In einem Expertenreferat, das die Deutsche Bank als Anzeige abdruckt, heißt der letzte, zusammenfassende Satz: „Die Menschen im Unternehmen müssen zu einer Wertschöpfungsgemeinschaft zusammengeschweißt werden und dies in ihrem Selbstbewußtsein verinnerlichen.“ Im Schafspelz der Gemeinschaft wird gesellschaftliche, profitorientierte Politik gemacht, die den japanischen Verhältnissen Konkurrenz machen soll: In dem Text wird nämlich Dezentralisierung gefordert mit der Wirkung, daß „die Kompetenz zur Entscheidung über die konkreten Arbeitsbedingungen vom zentralen Tarifvertrag auf die betriebliche Ebene, auf eine Abstimmung zwischen Management und Betriebsrat verlagert“ wird. Dies sei „nur die Konsequenz der Tatsache, daß sich in jüngster Zeit auf betrieblicher Ebene Betriebsräte und Unternehmensleitungen öfter souverän über tarifvertragliche Regelungen hinweggesetzt haben“. Das ist eine offene Aufforderung zum Rechtsbruch: Tarifverträge sind bindendes Recht. Dieser Grundsatz hat Verfassungsrang, denn nur unter seiner Geltung hat die grundrechtlich gesicherte Koalitionsfreiheit – die einzige Sicherung des Arbeitnehmers gegen Ausbeutung – Wert.
Dahrendorf hat sich bei einem Vortrag in England einmal gegen die Herrschaft des Prinzips „Gemeinschaft“ über das Prinzip „Gesellschaft“ ausgesprochen: Gemeinschaft bedeute „illness and early death, hunger and war, dependence and humiliation“. Das erscheint nicht ganz übertrieben, wenn man an die Wirkungen des Thatcherismus denkt, der die sozialen Lasten an längst nicht mehr vorhandene Gemeinschaften zurückgeben wollte. Die Denkweise, die Grün und Schwarz verbindet, kann die gesellschaftlichen Eigenkräfte mobilisieren; sie kann aber auch in eine falsche Sozialromantik führen, die hinter die sozialen Errungenschaften der letzten hundert Jahre zurückfällt. Verschafft die Zugehörigkeit zu einer „Wertschöpfungsgemeinschaft“ eine Zeitlang „Corporate Identity“, so garantiert sie doch keineswegs, daß man nicht mit Mitte 40 rausgeschmissen wird. Die Grünen müssen sich davor hüten, daß ihre größere Vertrautheit mit reiner Wolle nicht dazu genutzt wird, dem Wolf den Schafspelz zu liefern.
Die Autorin ist Professorin an der Fachhochschule in Bremen
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