Peinliche Stiche ins spanische Wespennest

Die spanische Regierung steckt in einer schweren Krise, nachdem sie durch die Aussagen zweier Ex-Polizisten in den Verdacht des Staatsterrorismus geraten ist. Premier Felipe González spielt auf Zeit, der Kurs der Peseta verfällt.  ■ Von Antje Bauer

Südfrankreich, 4. Dezember 1983. Im französisch-baskischen Grenzörtchen Hendaye wird der 51jährige spanische Baske Segundo Marey von vier Männern entführt. Zehn Tage später findet ihn die französische Grenzpolizei an einen Baum gebunden auf. In seiner Westentasche trägt er ein Bekennerschreiben einer bis dahin unbekannten Gruppe GAL (Antiterroristische Befreiungsgruppen). Diese beklagen darin die Untätigkeit der französischen Regierung gegenüber der baskischen Untergrundorganisation ETA und kündigen an, auf jeden Mord der ETA „entsprechend zu reagieren“.

Es war das erste Mal, daß die GAL in Erscheinung trat – eine Serie von Terroroperationen im französischen Baskenland sollte folgen, die 29 Todesopfer und zahlreiche Verletzte forderte. Zielscheibe der Anschläge waren Mitglieder der baskischen Untergrundorganisation ETA, die seit Francos Lebzeiten vom französischen Baskenland aus ihre Anschläge gegen den spanischen Staat organisierten. Die zahlreichen Auslieferungsersuchen der spanischen Justiz wurden von der sozialistischen französischen Regierung regelmäßig abgelehnt – auch nach Francos Tod. Häufig ballerten die Killer in ein vollbesetztes Café, so daß sie außer ETA-Mitgliedern auch eine Reihe völlig unbeteiligter Personen trafen. Als sich die neue – rechte – französische Regierung 1987 entschloß, gefangene „Etarras“, ETA-Mitglieder, an Spanien auszuliefern, nahm der Terror der GAL urplötzlich ein Ende.

Spanien, 16. Dezember 1994. In Madrid entschließen sich die beiden ehemaligen Polizisten José Amedo und Michel Domínguez, Licht ins Dunkel der Affaire Segundo Marey zu bringen und vor dem Untersuchungsrichter Baltasar Garzón auszusagen. Die beiden Polizisten und der Richter sind alte Bekannte. Garzóns Ermittlungen zum „Fall GAL“ hatten 1991 zu einem Prozeß gegen die beiden geführt. Sie waren angeklagt, die Terrorgruppe organisiert und über den Reptilienfonds des Innenministeriums finanziert zu haben, der für die Terrorismusbekämpfung eingerichtet worden war. Drei Instanzen hatten sich jahrelang am „Fall GAL“ die Zähne ausgebissen: Das Journalistenduo Ricardo Arques und Melchor Miralles, damals bei der Tageszeitung Diario 16 beschäftigt, der Rechtsanwalt Fernando Salas, Vertreter der Nebenkläger gegen die beiden Polizisten sowie besagter Richter Garzón. Die Gegenseite jedoch hatte ziemlich erfolgreich gemauert: Amedo und Domínguez hatten bestritten, an der GAL beteiligt gewesen zu sein, der ehemalige Innenminister José Barrionuevo hatte sich geweigert, über die Verwendung des Reptilienfonds auszusagen, und auch der Staatsanwalt hatte wenig Eifer gezeigt, die möglicherweise staatlichen Auftraggeber der GAL herauszufinden. Schließlich wurden der ehemalige Unterkommissar José Amedo sowie sein Untergebener, Inspektor Michel Domínguez, zu je 108 Jahren Gefängnis wegen sechs Mordversuchen sowie Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung verurteilt. Die Frage der eventuellen Auftraggeber der GAL, der Finanzierung der Berufskiller, sowie die Frage, ob es sich dabei um eine terroristische Vereinigung gehandelt habe, wurden „aus Mangel an Beweisen“ ausgeklammert. Aus reiner Eigeninitiative, so mußte angenommen werden, hatten die beiden Polizisten die GAL aufgebaut und finanziert. Amedo stieß eine Weile nach seiner Verurteilung vage Drohungen aus, er werde sich nicht verschaukeln lassen, was in interessierten Kreisen die Hoffnung weckte, er möge irgendwann auspacken.

Doch zunächst kehrte Ruhe ein. Die beiden Polizisten bekamen besonders erfreuliche Haftbedingungen und warteten auf eine baldige Begnadigung. Auch die Verfolgerseite ließ nach: Der Anwalt Fernando Salas starb 1992 an Aids. Richter Garzón ließ sich für die Wahlen vom angeschlagenen Premierminister Felipe González einkaufen. Der Journalist Ricardo Arques wurde – angeblich wegen der GAL-Berichterstattung – aus der Tageszeitung Diario 16 hinausgedrängt. Nur Melchor Miralles versicherte nach Prozeßende 1991 gegenüber der taz, in drei Jahren werde er sich erneut um den Fall kümmern, denn „schließlich singt immer einer“.

Warum Amedo und Domínguez nun ausgerechnet kurz vor Weihnachten zu Chorknaben wurden, darüber gibt es eine Reihe wahrscheinlicher Hypothesen – und möglicherweise, wie in diesen Fällen üblich, auch mehrere unbekannte Gründe. Bekannt ist, daß José Amedo im April vergangenen Jahres in Begleitung seines ehemaligen Vorgesetzten und Freundes Julian Sancristobal beim Generalstaatsanwalt Eligio Hernandez vorgesprochen hat, um die Möglichkeiten einer baldigen Begnadigung zu erkunden. Ein vorsichtig in der Öffentlichkeit losgelassener Testballon in dieser Hinsicht wirbelte aber soviel Protest auf, daß der Innenminister Antoni Asunción, ohnehin neu im Amt, schnell davon Abstand nahm. Im vergangenen Juli wurde den beiden Polizisten – ebenfalls unter heftiger öffentlicher Empörung, vorzeitig der offene Vollzug genehmigt. Diese Vorzugsmaßnahme, die in der Öffentlichkeit kritisiert wurde, weil damit das Schweigen der beiden Polizisten erkauft werden solle, genügte ihnen jedoch nicht. Hinzu kam, daß mit der Amtsübernahme von Innenminister Asunción ihr ehemaliger Vertrauter im Innenministerium, der Staatssekretär für Sicherheit Rafael Vera, seinen Hut genommen hatte. Sie fühlten sich ungeschützt. Der neue Innenminister Juan Antonio Belloch, der den bald nach Amtsübernahme zurückgetretenen Asunción ablöste, hatte darüberhinaus die 500.000 Peseten – mehr als 6.000 Mark – gestrichen, die das Innenministerium jedem während ihrer Haftzeit monatlich ausbezahlt hatte. Einen legalen Grund für diese Zahlungen gab es ohnehin nicht: Schließlich hatte das Gericht eine Beteiligung des Staates an der GAL ausgeschlossen und rein rechtlich waren Amedo und Domínguez somit Kriminelle, sonst nichts.

Im Herbst hatte Belloch die Prozeßunterlagen über den Söldner Mohammed Talbi aus Frankreich bekommen, der vor Gericht Amedo und Domínguez wegen der Entführung von Segundo Marey belastet hatte. Bislang waren die beiden wegen dieses Falles nicht belangt worden. Amedo und Domínguez riskierten ihre Hafterleichterungen, falls die Ermittlungen in Sachen Marey wieder aufgenommen werden sollten. Und schließlich hatte eine Untersuchungsrichterin, die gegen den geflohenen Ex-Chef der Guardia Civil Luis Roldan ermittelt, Ermittlungen in der Schweiz aufgenommen. Auf dortige Nummernkonten von Amedo und Domínguez, so der Verdacht, könnten hohe Summen als Entschädigung für Haft und Schweigen gezahlt worden sein.

Offenbar fühlten sich Amedo und Domínguez immer mehr alleingelassen und von der Regierung verraten. Als sie sich entschlossen auszupacken, hatte auch Baltasar Garzón sein Abenteuer in der Politik beendet, war auf seinen Posten als Untersuchungsrichter zurückgekehrt und hatte sich erneut der GAL zugewandt, kurz bevor der Fall verjährt wäre.

Soweit bisher bekannt, erzählte José Amedo dem Richter Garzón Folgendes: Im Herbst 1983 schlug der baskische Sozialistenführer Ricardo García Damborenea vor, als Reaktion auf die ETA-Anschläge den ETA-Führer Mugica Arregui, der sich in Südfrankreich aufhielt, zu entführen. Francisco Alvarez Sanchez, zu dem Zeitpunkt Polizeichef in der Baskenstadt Bilbao und Leiter der Antiterrorismusabteilung sowie Kommissar Miguel Planchuelo, 1983 Leiter der Antiterrorismusbrigade in Bilbao, beauftragen Söldner französischer Nationalität mit der Entführung. Kontaktperson war Amedo. Die drei Entführer bekamen in Bilbao einen Vorschuß ausbezahlt. Die Aktion traf den falschen. Statt des ETA-Führers erwischten sie den unbeteiligten Geschäftsmann Segundo Marey. Zunächst wurde erörtert, das Opfer in ungelöschtem Kalk lebendig zu begraben, dann entschloß man sich jedoch, zu versuchen, die französische Regierung zu einem Tauschhandel zu bewegen: Marey gegen vier spanische Polizisten, die kurz davor bei einem anderen anfängerhaften Versuch, einen Etarra zu entführen, von französischen Kollegen festgenommen worden waren. Laut Amedo telefonierte der damalige Zivilgouverneur Julian Sancristobal mit dem Innenminister José Barrionuevo, um ihm mitzuteilen, sie wollten die Geisel freilassen. Die Söldner wurden trotz der Pfuscharbeit entlohnt – laut Amedo aus dem Reptilienfonds des Innenministeriums. Kurz darauf folgten die nächsten Attentate der GAL. Fünf verschiedene Graphologen bestätigten unterdessen gegenüber dem Richter, daß mehrere Kommuniqués der GAL, die Amedo übergeben hatte, zumindest teilweise von den nun Festgenommenen geschrieben worden sind.

Garźon blieb nicht der einzige, der von Amedos Aussagen erfuhr. Obwohl er die Geheimhaltung der Dossiers anordnete, veröffentlichte Melchor Miralles in der Tageszeitung El Mundo fast zeitgleich, was Amedo zu berichten gehabt hatte. Seither ist die politische Szene Spaniens ein Wespennest. Als erstes ordnete Garzón die Festnahme von drei Vorgesetzten der beiden Polizisten an: So wanderten der damalige Bilbaoer Antiterror-Chef Miguel Planchuelo, der damalige Polizeichef Francisco Alvarez sowie der Ex-Vizegouverneur Julian Sancristobal in den Knast. Zwei weitere ehemalige Polizisten wurden gegen Kaution freigelassen. Die Öffentlichkeit war insbesondere von der Festnahme Sancristobals schockiert: Der 42jährige hatte inzwischen in der Sozialistischen Partei eine steile Karriere gemacht und sich bis zum Generaldirektor der Staatssicherheit hochgearbeitet.

Nach 1986 hatte er sich zum Geschäftsmann gemausert, dort gefördert durch lukrative Aufträge der öffentlichen Hand. Nicht ohne Häme berichtete die spanische Presse von der Einlieferung des feinen Herrn ins Gefängnis Alcala- Meco bei Madrid, und daß er bei dieser Gelegenheit das obligatorische Stück Seife, den Rasierschaum sowie zwei Kondome ausgehändigt bekommen hätte. Vor zwei Tagen wurde auch Juan de Justo, persönlicher Sekretär des ehemaligen Staatssekretärs für Sicherheit, Rafael Vera, wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Kapitalflucht festgenommen. Juan de Justo soll sich – vermutlich aus Geldern des Reptilienfonds, aus dem sich hohe Beamte des Innenministeriums großzügig bedienten – zwei Appartements in Miami gekauft haben. Alle Angeklagten bestritten die ihnen zur Last gelegten Taten. Garzón flog vorgestern in die Schweiz, um sich über die Konten zu informieren, auf denen angeblich ein Teil des Reptilienfonds des spanischen Innenministeriums lagert.

Die Regierung hüllte sich eine Weile in Schweigen und ließ dann den bislang unbescholtenen Innen- und Justizminister Juan Antonio Belloch im Parlament erscheinen. Dessen Erklärungen wurden jedoch allgemein als unzureichend angesehen. Der ehemalige Innenminister José Corcuera, der laut Amedo über die Entführung von Marey informiert war, lief Amok und beschuldigte Garzón, die Ermittlungen aus persönlichen Rachegefühlen gegen ihn zu führen. Beim Allgemeinen Rat der Justiz, einer Art Kontrollorgan, das als einziges den Richter absetzen könnte, stießen seine Äußerungen allerdings auf heftige Kritik. Der ehemalige Untersekretär für Staatssicherheit, Rafael Vera, klagte gegen Garzón, er habe den soeben festgenommenen Juan de Justo unter Druck gesetzt und gefoltert. Über eine solche Klage, die zur Absetzung des Richters führen könnte, muß ebenfalls der Allgemeine Justizrat befinden – die Chancen, daß sich die Regierung des unbequemen Richters auf diesem Wege entledigen könnte, sind somit gering.

Dem allgemeinen Klagerausch hat sich nun auch die Regierung angeschlossen: Wegen Verleumdung hat sie gegen Amedo ein Verfahren angestrengt, weitere gegen Domínguez und gegen einen Parlamentarier der Linksunion IU wurden angekündigt. Premierminister González hat sich bislang der Forderung der Opposition nach einer Aussprache im Parlament entzogen. Statt dessen ließ er sich am vergangenen Montag im Staatsfernsehen TVE interviewen. Danach mußte selbst die regierungsfreundliche Zeitung El Pais eingestehen, daß mehr als die Hälfte der Zuschauer dem Präsidenten kein Wort glaubten, als der behauptete, daß die Regierung mit der GAL rein gar nichts zu tun habe. Prompt sanken auch die Börsenkurse: Die Pesete erreichte, trotz der Stützung durch die Bundesbank, gegenüber der D-Mark ein Rekordtief von fast 88 Peseten.

Die Regierung zeigt sich angekratzter denn je. Zwar versichert der Organisationssekretär der PSOE, Cipria Ciscar, es werde weiterregiert wie immer. Aber der Forderung der konservativen Volkspartei nach vorgezogenen Neuwahlen schließt sich inzwischen nicht nur die Linksunion Izquierda Unida an, sondern auch der linke Flügel der PSOE. Man fordert eine Regeneration der Sozialistischen Partei in der Opposition – denn daß die PSOE Neuwahlen verlieren würde, daran hat zur Zeit niemand Zweifel. Als Termin für Neuwahlen würde sich Ende Mai anbieten, wenn Landtags- und Kommunalwahlen anstehen.

Doch die Regierung tut, was sie immer getan hat – sie mauert. Doch was da losgetreten wurde, ist kaum noch aufzuhalten. Der inhaftierte Planchuelo hat am Mittwoch gedroht, er werde die ganze Wahrheit aussagen, wenn er nicht umgehend aus dem Knast entlassen werde. Doch entlassen könnte ihn allenfalls Justizminister Belloch – und der wird einen Teufel tun. Er wird nämlich bereits jetzt als möglicher Nachfolger von González gehandelt.