Deutsche Tanzstunde

Die Tänzerin Mary Wigman und die Nazis: ein unterbelichtetes Kapitel der Tanzgeschichte  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Die einen halten sie für die wegweisende deutsche Tänzerin der Moderne zu Beginn des Jahrhunderts, die anderen für eine „alte Faschistin“. Mit der Aufarbeitung des ambivalenten Lebenslaufes der Tänzerin und Choreographin Mary Wigman hat sich die Tanzgemeinde nicht leicht getan. Wie geht man mit einer Künstlerin um, die einerseits als Urahnin von Pina Bausch & Co. gelten muß, die aber andererseits eine leidenschaftliche Hitler-Verehrerin war?

In ihrer 1986 erstmals erschienenen Wigman-Biographie „Leben und Werk der großen Künstlerin“ versucht die Tanzhistorikerin Hedwig Müller, sich differenziert mit der Nazi-Vergangenheit der Wigman auseinanderzusetzen. Doch der Titel ist verräterisch: Die Wahrheit soll nicht verschwiegen, die „große Künstlerin“ aber auch nicht beschädigt werden. Das war 1986 revolutionär. Heute würde sie die Biographie so zwar nicht mehr schreiben, aber 1986 habe sie allen Mut zusammennehmen müssen, um öffentlich zu machen, wie sehr Mary Wigman Hitler verehrt hat.

Wie alle anderen ist auch Mary Wigman nicht eines Morgens als Nazi aufgewacht. Mit ihrer Vorstellung von der „Urkunst“ Tanz, die die kreatürliche Seite des Menschen freisetzen soll, liegt sie zunächst voll im zivilisationsmüden Trend der Zeit: 1916 ist man im Züricher Dada-Café „des Banques“ von ihrem Tanz „Satans Vergnügen“ und ihren Rezitationen aus Nietzsches „Zarathustra“ begeistert. Doch eine Tänzerin der linken Avantgarde wird Mary Wigman nicht. Ihr geht es nicht um polemische Zertrümmerung tradierter Sinnzusammenhänge, sondern im Gegenteil um die ästhetische Vermittlung spiritueller Erfahrung. Tanz wird als Religion und innere Mission verklärt. Schon in den frühen Zwanzigern werden ihre Tänze, mit denen sie sich in Deutschland, Europa und zu Beginn der dreißiger Jahre auch in den USA ein großes Publikum erobert, von manchen Kritikern als „germanisch“ und „kultisch“ gefeiert. 1933 lassen sich ihr vormodernes Menschenbild und ihre Ästhetik, die gegen zivilisatorische Entfremdung archaische Kräfte beschwört, prächtig in die neuen Zeiten integrieren.

Die Biografin Hedwig Müller, führendes Mitglied der Mary-Wigman-Gesellschaft, hat das Thema seit nicht mehr losgelassen. 1993 organisierte sie gemeinsam mit Patricia Stöckemann in der Berliner Akademie der Künste mit der Ausstellung „Jeder Mensch ist ein Tänzer“, 48 Jahre nach 1945, die erste öffentliche Auseinandersetzung mit der Tanzkunst im Dritten Reich. Davon hat man in Leipzig offensichtlich nichts mitbekommen. In dem neuesten Wigman- Buch, herausgegeben von Angela Rannow und Ralf Stabel, das dem Aufenthalt der Tänzerin in Leipzig von 1942 bis 1949 gewidmet ist, sind Tagebuchaufzeichnungen, Reden und Briefe von Mary Wigman gesammelt. Im Vorwort bittet die Herausgeberin Rannow wegen der „zeittypischen Begriffe“ um „kritische Lektüre“. Einer eigenen politischen Stellungnahme enthält sie sich genauso wie der Mitherausgeber Ralf Stabel. Statt dessen gibt es belanglose Aufsätze über lokale Zänkereien und „Musik im modernen Ausdruckstanz“.

Die Dokumente aus der Leipziger Zeit sprechen für sich: In einem von Mary Wigman schon zu Lebzeiten veröffentlichten Text begründet die Tänzerin ihren Abschied von der Bühne damit, daß sie (wie viele andere) „nicht auf den Beginn des Abstiegs“ warten, „sondern auf dem Höhepunkt der persönlichen Leistungsfähigkeit“ aufhören wolle. In einem Brief, 1947 an Freunde in die USA gesandt, hört sich die Begründung anders an; um das eigene Leben zu retten, hätte sie von der Bühne Abschied nehmen müssen. So sehr hätten die Nazis ihren Tanz gehaßt. Besser kann man Verlogenheit und Verdrängungsmechanismen nicht dokumentieren. Doch das ist für die Herausgeber kein Anlaß für einen Kommentar. Bei den Auszügen aus den Tagebuchaufzeichnungen haben sie besonders heikle Passagen vermieden.

Etwas Bewegung in die vermuffte und reaktionäre Szene kommt nun direkt aus dem Herzen der Mary-Wigman-Gesellschaft selbst: In der letzten Ausgabe der gesellschaftseigenen Fachzeitschrift Tanzdrama werden Mary Wigmans Positionen zu „deutschem Wesen“ und Antisemitismus endlich analysiert.

Als Mary Wigman 1936, nach ihrer Beteiligung an der Gestaltung des künstlerischen Rahmenprogramms der Olympiade, von den Nazis wie eine heiße Kartoffel fallengelassen wird, fühlt sich die Arme zutiefst verkannt: Sie hält ihren Tanz für wahrhaft deutsch und das von Goebbels favorisierte Ballett für „artfremd“, weil französisch geprägt. Auch nach 1945 bleibt sie eine gute Deutsche. „Würdelos“ ist nach ihrer Ansicht die „freudige Erregung“, mit der im April 1945 in Leipzig die einmarschierenden Amerikaner begrüßt werden. Mary Wigman ist keine überzeugte Faschistin, aber ihr eigenes und das Schicksal Deutschlands interessiert sie mehr als das von gefolterten und ermordeten KZ-Häftlingen. Ein deutscher Lebenslauf. Als ihr der jüdische und ihr immer wohlgesonnene Tanzkritiker Artur Michel nach Kriegsende einen Gruß aus New York schickt, „rührt“ es sie „tief, daß die Juden anhänglich sind“. Da kann man nur gespannt sein, was Frau Wigman sonst noch „tief rührt“. Für die nächste Nummer des Tanzdramas ist eine Fortsetzung angekündigt.

– Hedwig Müller: „Mary Wigman. Leben und Werk der großen Künstlerin“, 324 Seiten, Beltz Quadriga Verlag, Weinheim/ Berlin, 58 DM

– „Mary Wigman in Leipzig“, hrsg. von Angela Rannow und Ralf Stabel, Tanzwissenschaft e.V., Leipzig, 170 Seiten, 24.80 DM

– Tanzdrama Nr. 25, 1994, Mary Wigman-Gesellschaft e.V., Köln