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Eine Vitrine für den Tschetschenienkrieg

In der russischen Sonderverteidigungszone Kaliningrad sind die Toten von Grosny – fast – kein Thema / Faschisten fordern in ihren Hetzschriften die Vernichtung des Kaukasus-Volkes  ■ Aus Kaliningrad Anita Kugler

Im Museum für Geschichte und Kunst in Kaliningrad (Königsberg) befinden sich neben den Vitrinen, die den Kampf um Ostpreußen ab Januar 1945 dokumentieren, auch drei Glaskästen über den Krieg gegen Afghanistan. Die Ikonographie ist genau dieselbe. Soldaten auf T-40-Panzern, eine Auswahl von Kalaschnikows, Orden und Generalportraits, der Feldpostbrief eines gefallenen Armisten. Sowjetische Kriege waren immer Befreiungskriege, lehrt das Anschauungsmaterial, ganz gleich ob gegen Nazis oder Muslime. Ob sie sich auch Vitrinen über den Krieg gegen Tschetschenien vorstellen könne, frage ich die Museumswärterin. „Natürlich“, sagt sie. Ihre Tochter sei mit einem Soldaten verheiratet und beim Militär wisse niemand, „unter welche Bettdecke man morgen gesteckt“ werde. Wenn er einberufen werden sollte „und sterben müßte“, würde sie sein Bild hier hüten wollen.

Auf dem Platz des Sieges, dort, wo noch ein gütiger Lenin über die Passanten wacht, findet in der zweiten Januarwoche eine kleine Demonstration statt. Zehn Frauen vom Komitee der Soldatenmütter stehen frierend da, umringt von doppelt so vielen und halb so alten Milizionären. Die Frauen tragen Pappschilder mit selbstgemalten Aufschriften „Gebt uns unsere Kinder zurück!“ um den Hals. Geld für Flugblätter haben sie nicht. Die Menschen eilen auf dem Weg zum Nordbahnhof vorbei, niemand sucht das Gespräch mit ihnen. Der Protest gegen den Krieg ist im Oblast Kaliningradskij kein Thema der öffentlichen Diskussion.

Darüber wundern sich nur Fremde. In dieser von Polen und Litauen umgrenzten russischen Exklave sind nach internationalen Schätzungen mindestens 200.000 Soldaten stationiert, nach dem Abzug aus Ostdeutschland vielleicht auch 250.000. Die Zahl der Zivilisten gibt der Oblast mit 900.000 an. Auf dem Gebiet etwa von der Größe Hessens gibt es acht Territorien unter militärischer Hoheitsverwaltung, vier Militärflughäfen, einen großen Militärhafen und angeblich auch noch atomare Abschußrampen. Seit März 1994 ist das Gebiet auf Beschluß Moskaus eine Sonderverteidigungszone, und verteidigt werden die russischen Interessen jetzt ein paar tausend Kilometer entfernt auch in Tschetschenien. Von Verteidiung schreibt selbst die größte Tageszeitung, die Kaliningradskij Prawda, in ihren Kommentaren. Mit keinem Wort berichtet sie über den Widerstand der Demokraten in der Moskauer Staatsduma.

Ein Offizier verweigert den Marschbefehl

Trotzdem laufen immer wieder beunruhigende Gerüchte durch die Stadt. Ende Dezember sollen aus dem Gebiet von Swetlowsk (Rauschen) die ersten Marineinfanteristen nach Grosny geschickt worden sein. Die ersten 40 Zinksärge seien Anfang Januar auf dem Militärflughafen bei Sowjetsk (Tilsit) ausgeladen worden. Ein deutscher Unternehmer berichtet von einem Offizier, der am 20. Dezember den Befehl erhielt, sich für den nächsten Tag zum Abflug nach Grosny bereit zu machen. Als er am Flughafen die völlig verängstigten und völlig betrunkenen Kindersoldaten gesehen habe, habe er sich geweigert, mit diesen in den Krieg zu ziehen. Daraufhin sei er am 23. Dezember unehrenhaft und unter Wegfall der Veteranenrente aus der Armee entlassen worden. Der Mann habe ein Jahr vor seiner Pensionierung gestanden.

Ob es Deserteure gibt, weiß im Oblast niemand. Aus der Exklave herauszukommen ist schwer. Derzeit werden die Grenzen streng bewacht, „100prozentig schärfer als noch im November“, erzählt der Kommandant der sogenannten „Schwarzen Brigade“. Sein Job ist es, den Zug nach Polen an der Grenze von Mamonowa (Heiligenbeil) nach Flüchtlingen, Waffen und Rauschgift zu durchsuchen, und das macht er mit Stablampe, Spiegeln, Vierkantschlüsseln und etwa 60 Helfern sehr gründlich. Früher stand der Zug 40 Minuten im russischen Sperrgebiet, jetzt anderthalb Stunden.

„Die Deutschen sind naiv und dumm“, erregt sich ein früherer Marineoffizier. Sie quasselten von Menschenrechten und begriffen nicht, daß Rußland in Tschetschenien den Kampf gegen den Islam für ganz Europa führe. „Wenn wir sie jetzt nicht schlagen“, sagt er, „stehen die Türken bald vor Berlin.“ Die russische Armee sei die stärkste der Welt, behauptet er, und der Krieg ziehe sich nur deshalb so lange hin, weil die Soldaten zu feige seien, auf Frauen und Kinder zu schießen. Er jedenfalls würde es sofort tun, wenn man es ihm befehlen würde. Derzeit herrsche aber nur Alarmstufe zwei, erst bei Stufe drei habe er sich bei der Einberufungsstelle zu melden. Als Bürger von Kaliningrad habe er auch ein sehr privates Interesse, die Tschetschenen zu „killen“. „Wer fährt denn hier die Mercedes 600 und kassiert die Schutzgelder? Natürlich die Mafia, und die Mafia sind die Tschetschenen.“

„Alle Tschetschenen sind Banditen“

Und weil auch alle tschetschenischen Kinder von ihren Mafiosi- Müttern zu Mafiosi erzogen würden, dürfe man jetzt kein Mitleid mit ihnen haben. „Mit niemandem. Alles Banditen“, ergänzt er und faselt noch etwa von der Wichtigkeit des arischen Bluts, das die Nordkaukasusvölker angeblich nicht in ihren Adern fließen haben. Ein Faschist sei er aber noch lange nicht, behauptet der promovierte Naturwissenschaftler, nicht einmal Schirinowski-Wähler. Dessen Liste bekam bei den letzten Wahlen zur Staatsduma im Oblast 30 Prozent.

Die Faschisten, Mitglieder der paramilitärischen „Russischen nationalen Einheit“, stehen Tag für Tag in der Nähe des heutigen Basars. Es sind knallharte Kerle, die sich als junge Elite verstehen und Rußland vor der „Knechtung“ durch Zionisten, ausländisches Kapital und alle „Antislawen“ bewahren wollen. Deutsche Nazis stehen nicht auf der langen Liste der Feinde Rußlands, mit denen pflege man freundschaftlichste Beziehungen, erklärt einer.

Etwa sechs Eliterussen, alle um die 20 Jahre und mit schwarzen Schaftstiefeln ausgestattet, verteilen ihre Zeitschrift Die russische Ordnung und Flugblätter zu Tschetschenien. Auf dem Titelblatt Symbole in der Art des Hakenkreuzes. Im besten Parteisowjetisch wird erklärt, daß der Separatismus zum Untergang Rußlands führen wird, Tschetschenien also besiegt werden muß, um dort Lebensraum für Russen zu schaffen. Die Schriften werden von den Passanten gerne genommen, aber wenige Rubelscheine wanderen in die – ebenfalls mit Hakenkreuzen geschmückte – Solidaritätskasse.

Direkt neben den Nazis frieren die Abgesandten der „Kommunistischen Partei Rußlands“. Sie sind durchweg doppelt und dreifach so alt. Berührungsängste gegenüber den Faschisten haben sie trotzdem nicht. Auch sie sind irgendwie Nostalgiker, russische Chauvinisten. Bloß in der Frage Tschetschenien gibt es Unterschiede: Den Krieg finden sie wegen der miserablen Durchführung nicht so gut. Sie schimpfen auf Verteidigungsminister Pawel Gratschow und auf Präsident Jelzin. Die hätten den Tschetschenen früher immer Waffen geliefert, schon deshalb müsse man sie in die Wüste schicken. „Jelzin ist ein Mörder“, sagt eine Frau mit Veteranenabzeichen. In Kaliningrad haben die Kommunisten wegen ihres nationalen Gehabes und der Geschichte des Gebiets immer noch eine gute Reputation. Ihre Flugblätter werden sie trotzdem schwer los.

In Kaliningrad verschwimmen alle traditionellen Abgrenzungen zwischen rechts und links. Die Gebietsverwaltung wird von dem „Reformer“ Juri Matotschkin geführt, einem alten Vertrauten Jelzins. Zu den Militärs hat er ein glänzendes Verhältnis. In Kaliningrad, sagt Alexander Filatow, 44 Jahre, „gibt es keine Demokraten“. Der promovierte Physiologe wurde 1991 von der Universität relegiert, weil er in einer Tageszeitung über die Finanzmauscheleien der Hochschule berichtet hatte. In Kaliningrad, sagt er, gibt es nur alte und neue Kommunisten, Nationalisten und den Exvizepräsidenten Alexander Ruzkoi. Am 27. November 1994 wurde in der Stadt von Ruzkoi, Schirinowski und dem Führer der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, das neue Oppositionsbündnis „Rußlands Grenze von Kaliningrad bis zu den Kurilen“ gegründet. Selbstverständlich glauben sie, daß der Kampf um Rußlands Öl im Kaukasus entschieden wird.

Autonomie für die Freihandelszone?

Der Sprecher von „Rußlands Grenze“ ist in Kaliningrad der Unternehmensberater und Businessman Alexander Egorov, 42 Jahre. Sein größter Coup war im Dezember, daß er die Gebietsvertretung von Coca-Cola Baltisk erhielt. Das ist der Weg zum Reichtum, zwei Expolizisten hat er sich schon als Leibwächter zugelegt. Der Mann ist ein glänzender Redner, eindrucksvolle Gesten und eine Fülle von Anekdoten hat er ständig parat. Charmant ist er auch. Dieser Krieg „ist ein Wahnsinn“, jede Region müsse den Grad von Autonomie erhalten, den es anstrebe. Sagt er. Aber natürlich denkt er dabei an die „Freihandelszone Jantar“, die wirtschaftlich erst wirklich brummen kann, wenn der Kaliningrader Oblast Steuerautonomie erhält. Als selbsternannter Präsident der „Assoziation der [vierzehn, Anm. d. Red.] russischen Freihandelszonen“ muß er so reden. Zehn Minuten nach seinem Privatissimum trifft er sich mit dem Gebietsdumavertreter der Schirinowksi-Partei, Pyzuch Orez, einem 28jährigen Jüngelchen mit laschem Händedruck.

Am übernächsten Tag verbreitet die „Russische Grenze“ die Behauptung, daß die tschetschenische Verbrecherführung tausend Soldaten, die sich geweigert hätten, gegen ihre russischen Brüder zu kämpfen, standrechtlich erschossen habe. Wieder einen Tag später wird diese Nachricht zur Rundfunkmeldung, und die Baschkarow-Gläubigen machen aus den angeblich tausend Hingerichteten zweitausend Märtyrer.

Und während in Moskau der Protest gegen den Krieg wächst, bleibt es in Kaliningrad ruhig. Vielleicht hat man sich in dieser Stadt, die immer noch so aussieht, als ob der große Krieg gestern zu Ende gegangen sei, an die Zerstörung gewöhnt. In einem Land, in dem es von Soldaten nur so wimmelt, in dem ganze Ortschaften für Nahkampfübungen von Zivilisten frei bleiben müssen, wo Panzer, Flugzeuge, Schiffe als Kriegsdenkmäler aufgestellt sind und alte Ordenskirchen als Armeedepots dienen, in solch einem geschundenen Land ist der Krieg vielleicht zum Teil des Alltags geworden. Und den muß man erst einmal überleben.

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