: "Alles Stasi - außer Mutti"
■ Wer dachte, niemand interessiere sich mehr für die Stasi, lag voll daneben
Berlin (taz) – Ungefähr tausend Zuschauer drängelten sich Samstagnacht um elf Uhr in der experimentierfreudigen Berliner Volksbühne aneinander, um zu hören, was Jürgen Kuttner, der 36jährige Radio- und Fernsehtalkstar des ORB, Ex-tazler und eben auch Ex- Stasi-Mitarbeiter von 1977 bis 1983, zu seiner Vergangenheit zu sagen hatte.
Mit Wolfgang Thierse, der Journalistin Liane von Overbeck, den Schriftstellern Bert Papenfuß und Peter Wawerzinek, dem Volksbühnenchef Frank Castorf sowie dem Sänger André Herzberg saßen Diskutanten auf dem Podium, die allesamt, wie auch Kuttner, den Prenzlauer Berg nicht nur als Wohnort, sondern als sozialen und politischen Zusammenhang begreifen. Trotz oder gerade wegen der diskussionsfreudigen Disparatheit des Publikums, in dem Stasi-Opfer, bärtige Ex-Bürgerrechtler, Verschwörungstheoretiker, Kuttnerfans im Rentenalter, Ostler, Westler und auch Teenager saßen, herrschte ein mehr oder weniger diffuses „Wir“ vor, das nicht ganz unproblematisch war. Es überspielte die reale Differenz zwischen den Prominenten auf dem Podium und den Zuschauern, die man vom Podium nur als diffuse Masse wahrnehmen konnte. Ebenso verwischt wurde die soziale Differenz zwischen dem Star Kuttner, der branchenüblich entlohnt wurde (2500 Mark pro Fernsehsendung) und wenn er wollte sofort bei RTL anfangen könnte, und seinen Fans.
Die Veranstaltung verlief produktiv chaotisch. Kuttner, der mit einer „Short-Version“ seiner Stasi- Mitarbeit begann, war eher „erschreckt“ über Solidaritätsbekundungen und auch darüber, daß ihn bisher kaum jemand kritisiert hatte. Er wunderte sich, daß ihn alle auf die Stasi, aber kaum jemand auf seine zehnjährige SED- Mitarbeit ansprach.
Der aufgeregte André Herzberg hätte gerne eine „Long Version“ seiner Stasi-Mitarbeit gehört und verstand weder dessen mangelndes Schuldbewußtsein noch die fehlende Erinnerung an erste Gespräche. Aus dem Publikum protestierte Sascha Anderson gegen „die Schlüssellochgeilheit“ von Herzberg. Papenfuß sieht in der Stasi-Diskussion vor allem einen „Kulturkampf“, er beeindruckte mit einem Bonmot: „Was früher DJ war, wird bald IM sein“. Castorf berichtete, wie gut ihn seine IMs zumeist behandelt hätten, war erbost über den moralisierenden Ton der Stasi-Debatte, erinnerte daran, daß die überwältigende Mehrheit der DDRler auch noch 89 für die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt hatte, und war als Sympathisant katholischer Beichtrituale für jede Art der Enttarnung. Während der sympathisch angetrunkene Peter Wawerzinek um Chaos bemüht war und gruselige Sozialismuskitschgedichte vortrug, die Rathenow und Fuchs Anfang der 70er Jahre verfaßt hatten, war Wolfgang Thierse um Ordnung bemüht. Ins selbstgefällige Moralisieren verfiel kaum einer, wenn auch Thierse und Herzberg betonten, daß es in der Diskussion notwendigerweise auch um Moral gehen müsse. Nach einer Stunde ließ man das Publikum mitdiskutieren.
Geschichten und alle erdenklichen Statements wurden ausgetauscht. Stasi-Opfer bedauerten, daß der Moderator nicht öffentlich um Verzeihung gebeten hatte; Westlinke wollten von Strukturen, nicht von Einzelnen sprechen; im rührenden SED-Jargon erzählte eine Frau von den Idealen, die sie als junge DDR-Kommunistin hatte. Im Foyer und in der Kantine des Theaters standen tausend Grüppchen und probierten angeregt fast utopisch wirkende Formen des Diskurses, in dem sich die Grenzen zwischen Psychokitsch, Politik, Erzählungen, Anklagen, Narzißmen und Zweifeln ständig verwischten. Gegen sechs in der Früh waren alle betrunken. Die Nacht vergrößerte die eigene Verwirrung.
Der Moderator, der seine Stasi- Mitarbeit als einen, wenn auch problematischen, Teil seines gesellschaftlichen Engagements sieht, will seine Akten veröffentlichen, sobald sie vorliegen und „egal wie belastend sie sein mögen“. Detlef Kuhlbrodt
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