Land's End der Bretagne

Wo bretonische Fischer heute um ihre Existenz ringen müssen, stachen einst Kelten in See, um die Welt zu entdecken. Sagen und Krisenberichte erzählen vom rauhen Leben auf dem Finistère, der felsigen Halbinsel am Atlantik  ■ Von Gerhard Schumann

Die Kelten kamen nur bis Penmarc'h, wo sie im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit, aus dem fernen Indien kommend, vom Meer gestoppt wurden. Ende einer Reise am Ende des Landes. Finis terrae, Finistère, Gegenstück zum galicischen Cabo de Finisterre. Und Pierre-Jakez Hélias, 80, großer alter Mann unter den Schriftstellern der Bretagne („Le Cheval d'Orgueil“), rezitiert seine „Kantate vom Ende der Welt“, die erzählt, wie die Geschichte weiterging.

Sie bauten Schiffe, die Kelten, und stachen in See. Irgendwie schafften sie es, die „schwarzen Riffe“ vor Penmarc'h zu passieren, „die wie reißende Tiere die Wellen anfauchten und mit ihren zackigen Rücken die Hafeneinfahrt versperrten“. Schließlich entdeckten sie – „nicht etwa ein Typ namens Christopher Columbus“ – sogar Amerika und merkten verwundert, daß das Finistère gar nicht das Ende der Welt war. Sagt Hélias und grinst.

Derweil umdrängen sieben Fischer den Schreibtisch ihres engen Gewerkschaftsbüros. Lesconil heißt ihr Kaff am Atlantik, auf den Hubert, Guy, Théophile, Marcel, Pierre, Claude und Jean-Yves in keltischer Tradition tagtäglich hinausfuhren. Mittlerweile sind einige Rentner unter ihnen, und auch die anderen, keiner jünger als 45, bleiben am heutigen Sonntag im Hafen, beraten ihre Zukunft. Schon viele Junge verließen das Finistère auf der Suche nach Arbeit, und Lesconil macht einen sterbenden Eindruck. Stumpfe Fensterscheiben von leerstehenden Häusern verstärken die winterliche Melancholie, eigentümliche Stimmung, in der selbst den Möwen ihr unendliches Kreischen vergeht. Am breiten Sandstrand verschwindet ein einsamer Läufer im feinen, grauen Dunst aus Wasser, während sich die sieben ins Zwielicht der „L'Abysse“ begeben, eine von drei Bars am Hafen – „Abysse“, Untiefe, in die kein Sonnenstrahl dringt. Pastis trinken die Fischer und hoffen, daß sie die Schließung ihrer „Coopérative Maritime“ verhindern können. Es wird schwer werden. Die Stimmung ist trübe wie Wetter und Gegend: In den letzten beiden Jahreszeiten gedeihen am Ende des Landes Einsamkeit und Langeweile. Der Alkoholkonsum steigt und die Selbstmordrate auch.

Finistère, viertes Département und Kuppe der bretonischen Halbinsel, Land aus Wasser und Stein, Zauberwäldern und verwunschenen Schlössern, voll von mythischen Gestalten, Druiden und Barden. Um 1140 schrieb Geoffrey of Monmouth, ein Kleriker aus dem britannischen Oxford, über Artus und dessen unfehlbaren Berater, den Meisterzauberer Merlin, ließ sie herumgeistern und allerhand Heldentaten vollbringen.

Scarlett existiert und heißt wirklich so. Scarlett Le Corre. Die einzige Fischerin des Finistère lotst ihr Boot an Guilvinecs Leuchtturm vorbei, begleitet von einer vielköpfigen Möwenschar, die das Kreischen diesmal nicht vergißt. Von den vorgelagerten Felsbänken glotzen Kormorane herüber. Die Sonne taucht rund und rot über dem Bug auf. Ihren Namen verdankt Scarlett natürlich dem Film, und der Wind prägt tatsächlich ihren Alltag – sicher auch ihre drei Kinder und „Mon Copain J.P.“, wie ihr Boot heißt, wobei das „JP“ für ihren Ehemann Jean Pierre steht, Fischer wie sie, allerdings noch weiter draußen, Hochsee, fünfzehn Tage am Stück.

„Er macht sein Ding, ich meins“, sagt Scarlett lachend. Die agile Frau, 38 Jahre, ein Meter fünfzig vielleicht, zerzauster Wuschelkopf, in knallgelb-wetterfestes Lack gehüllt, hat ihr Diplom spät erworben, 1987 erst, aber es mußte einfach sein: Sie sei eben in das Meer verliebt. „Die Freiheit reizt mich“, ruft sie herüber und bremst im nächsten Moment ganz unromantisch den Motor, schaltet die Steuerung auf Automatik, legt an Backbord die Netze aus, 300 Meter von rosaroten Bojen markiert. Konzentrierte, kräftige Handgriffe, tausendmal vollbracht. Nein, mit ihren Kollegen habe sie keine Probleme, von wegen, was will die Frau in einem Männerberuf, und doch: Im nächsten Satz sagt die Fischerin, daß sie dreimal mehr wie ein Mann leisten müsse, um wirklich akzeptiert zu werden. Relativierung des „bretonischen Matriarchats“.

Das Funkgerät meldet sich plärrend. Scarlett betritt ihren Führerstand, um zu hören, was los ist. In dieser Ecke der Welt ziehen schon mal in Sturmeseile Unwetter auf. Sie erinnert sich an den 20. Januar, als sie das überlebenswichtige Seil unbedingt festhalten mußte, komme was wolle, und als alle Muskeln und Bänder ihres rechten Arms abrissen. Die Schlagwelle war zu mächtig. Doch solch ein Unglück sei außergewöhnlich. Wenn sich die wertvollen Netze draußen auf See befänden, würde natürlich alles getan, um sie einzuholen. So passiere es. Und natürlich wegen des Wetterberichts. „Die Meteorologie ist eben keine exakte Wissenschaft“, ruft sie gegen den Wind, und ich bemerke ihr Schulterzucken. „Sei's drum“, soll das wohl heißen.

Nicht nur die Natur macht den Menschen zu schaffen, auch die Politik. Billigimporte von tonnenweise Fisch überschwemmen die Märkte, zerstören Existenzen. Und so kam es, daß die Fischer nach Paris zogen und sich Schlachten mit der Gendarmerie lieferten, stinkenden Fisch abkippten und am altehrwürdigen Provinzparlament von Rennes gar herumzündelten. Derzeit laufen gerade die Prozesse... – und Scarlett erzählt von einem Termin am Abend, wo sie im „Comité des Pêcheurs“ mit dessen Präsidenten Unterstützungsmaßnahmen für die Angeklagten beraten will. Auch sonst müßten sie dranbleiben, sich wehren, den Behörden auf die Nerven gehen, fünfzehn-, zwanzigmal, beharrlich. Sonst geschehe nichts.

Wir kehren zurück von hoher See, vorbei am trutzigen Leuchtturm von Guilvinec. In der Region entfachten einst Einsiedlermönche jede Nacht Feuer, um die Schiffe vor Untiefen, Riffs und der Küste selbst zu schützen. Bei Kapitänen und Mannschaften ging ewig die Furcht um, wenn sie nachts dem Finistère zu nahe kamen: Ob wohl Paganns, die Strandräuber, ein Irrlicht entfacht hatten? Ab dem 19. Jahrhundert dann wurde die Küste signaltechnisch erschlossen. Häufig unter Lebensgefahr und abenteuerlichen Arbeitsbedingungen mauerten Arbeiter auf Felssockeln oder Kais ihre schlanken Bauwerke gegen Wind und Wetter bis in den Himmel hinein. Die Gischt zerstäubte über ihren Köpfen, und nach zweieinhalb Minuten waren alle naß bis auf die Haut.

Michel Mazéas, Bürgermeister von Douarnenez, hat über die unbändige Meeresdünung („Les Houles de la mer d'Iroise“) und vom Leben rund um den Fisch ein Buch gemacht. Die von ihm regierte Hafenstadt mit ihren 17.000 EinwohnerInnen wurde von der Krise nicht verschont, aus der auch der Kommunist keinen Ausweg weiß. Eine grundsätzliche Veränderung des Gesellschaftssystems bleibe wohl vorerst Utopie, mutmaßt er und berichtet von seiner Realpolitik. Auf gegebener Grundlage tun, was möglich sei. Und das scheint nicht viel zu sein. Geld fehlt ebenso wie gangbare Auswege.

Auch die Zukunft der Konservenindustrie, in der Renée Rochedrux schon als Zwölfjährige arbeitete, ist unsicher. Die 70jährige Rentnerin klopft an die Tür des Bürgermeisters, nimmt Platz, erzählt von Gott und der Welt und den „20 Centimes pro Stunde“ – „Penn a vro“ auf bretonisch –, über die Michel Mazéas geschrieben hat. Derzeit liegt er mit dem Besitzer der Konservenfabrik im juristischen Clinch, weil er auch die Fälle sexueller Belästigungen von Arbeiterinnen durch den „Patron“ nicht verschwieg.

Renée Rochedrux zeigt uns die Stadt. Blick auf Hafenidylle, Gang durch enge Gassen, am Museum der Conserverie vorbei, und wieder kommt die Erinnerung an damals, 1924, ihr Geburtsjahr, als zehntausend Konservenarbeiterinnen streikten für jene „Penn a vro“, und die weißhaarige, resolute Frau mit dem offenen Lachen lädt uns auf eine Limonade zu sich ein, Häuschen gegenüber der Fabrik, niedriges Wohnzimmer, kleine Fenster, Fotos und Bilder an der Wand, Schiffsmodell auf Kommode. Erinnerungen an ihren Mann, der 1953 auf See blieb, und sie mußte sehen, wie sie mit ihren beiden Kindern allein durchkam. Irgendwie klappte es.

Und dann singt sie mit der schon etwas unsicheren Stimme einer älteren Frau ihr Chanson, das Lied der Arbeiterinnen, die ihre zwanzig Centimes nicht bekamen, sondern nur vier, und zwischen den Strophen kommentiert Renée ironisch, daß der Patron richtig verrückt wurde, wenn das Lied gesungen wurde, und daß der Text wirklich zutreffe und daß beim Singen die Schicht viel schneller vorbeiging: „Saluez, riches heureux“ – seid gegrüßt, ihr glücklichen Reichen, von den Armen in Lumpen; seid gegrüßt von denen, die eure Millionen verdienen. Renée singt und spricht französisch. Sie kann allerdings auch Bretonisch.

„Kemper“ steht auf dem Schild am Stadtrand in gleich großen Buchstaben wie „Quimper“. Finistères Hauptstadt präsentiert sich zweisprachig, und jeder modernde Steinquader ihrer Altstadt inklusive imposanter gotischer Kathedrale von 1240 verströmt einen Hauch von Mittelalter. In Kemper leitet Marivonie Goueron eine von insgesamt 23 Diwan-Schulen, in denen ausschließlich auf bretonisch unterrichtet wird. Lange Zeit sei die Sprache geächtet gewesen, erzählt die Direktorin des eher unscheinbaren Schulgebäudes. Pavillon-Flachbau. Mittlerweile sei es sogar möglich, das Staatsexamen auf bretonisch abzulegen. Auch auf staatlichen Schulen werde Bretonisch gelehrt – allerdings als Fremdsprache, und trotz aller schließlich errungener Anerkennung habe die Sprachverbreitung „noch nicht den Tiefpunkt erreicht“.

Autonomiebestrebungen aller Art werden weiterhin durch ein dunkles Geschichtskapitel aus der Besatzungszeit durch Hitler- Deutschland belastet, als es den fremden Okkupanten gelang, einen Teil der bretonischen Nationalbewegung zu vereinnahmen. Auch heute kommentiert Jean- Pierre Jeudy, Bürgermeister von Carhaix-Plonguez, unzweideutig: „Das wird hier niemals vergessen werden.“ Einige Historiker dagegen relativieren: Lediglich eine Minderheit habe sich mit den deutschen Faschisten eingelassen. Weit mehr Menschen seien in der Résistance engagiert gewesen. Autonomie sei trotzdem kein Thema, das Recht der Bretonen auf die eigene Kultur allerdings unumstritten.

An der Peripherie Europas tragen manche Frauen turmartige Hauben – Kopfbedeckung der Bigouden-Tracht im südlichen Teil des Finistère. Vermutungen zufolge galten sie einst als sichtbarer Protest gegen die Pariser Zentralmacht. Die bäuerlichen „Bonnet Rouges“, Rotmützen, hatten 1675 gegen die Steuererhöhungen durch Ludwig XIV. revoltiert, der daraufhin sechs Kirchtürme schleifen ließ. Doch auf den Köpfen der Frauen seien diese symbolisch wieder erstanden, heißt es.

Pierre-Jakez Hélias weiß es besser. Die Hauben dienten lediglich als Schmuck und seien der wachsenden Eitelkeit adäquat mitgewachsen. Wahrscheinlich hat er recht, der Autor der bretonischen „Meeressagen“ und der „Kantate vom Ende der Welt“, das doch nur das Ende des Landes ist.