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Schönheit gegen Wahrheit

Er nannte sich den „westjüdischsten der Westjuden“ – eine Studie des italienischen Germanisten Giuliano Baioni über Franz Kafkas Auseinandersetzung mit dem Zionismus seiner Zeit  ■ Von Sophie von Glinski

Kafkas Verhältnis zum Judentum ist in den letzten Jahren in der Forschung zu einem allseits beliebten Gegenstand geworden. Hier scheint endlich ein Weg in die schwer verständliche Welt Kafkas zu führen. Ein Königsweg noch dazu, notierte doch Kafka selbst über die Beziehung von Judentum und Literatur: „Die ganze Literatur ist gegen die Grenze, und sie hätte sich ... leicht zu einer neuen Geheimlehre, einer Kabbala entwickeln können.“

Der Metzler Verlag hat in die rege Debatte über diese Beziehung nun ein Buch geworfen, das der italienische Germanist Giuliano Baioni im Original schon vor zehn Jahren publiziert hat. Die deutsche Germanistik hat es bisher nicht zur Kenntnis genommen. Baionis Buch verdient solches Desinteresse nicht; auch nach zehn Jahren ist er an vielen Stellen immer noch weiter als die deutsche Forschung.

Das Interesse der hiesigen Germanistik galt bisher vor allem dem Judentum als fernem Wunschbild einer mit sich einigen Tradition, als Hoffnung auf Genesung des kranken Schriftstellers Kafka. Demgegenüber setzt Baioni auf Kafkas Selbstdefinition, auf sein eigenes Bild von seiner Schriftstellerexistenz. Hier liegt – so Baionis These – die fundamentale Bedeutung des Judentums für Kafka; genauer: in der Kategorie der „westjüdischen Zeit“.

„Westjüdische Zeit“ ist ein Schlagwort aus der zeitgenössischen zionistischen Diskussion und steht für die Epoche der vollzogenen Assimilation der Juden an die christliche Kultur Westeuropas. Prototyp dieser Epoche ist der jüdische Großstadtintellektuelle. Er hat keine Verbindung zur jüdischen Tradition und Religion mehr, ist aber auch in der deutschen Kultur ein Fremder. In die ihm eigentlich wesensfremde deutsche Literatur hat er sich eingeschlichen und ihre Seelentiefe mit seinem amoralischen Ästhetizismus zerstört. Das ist das Feindbild, das sich die Zionisten in Kafkas Generation, allen voran sein bester Freund Max Brod, von ihrer Vätergeneration machen.

Kafka teilt das vernichtende Urteil seiner zionistischen Freunde über den westjüdischen Intellektuellen. Gleichzeitig hat er aber bekannt, selbst „der westjüdischste der Westjuden“ zu sein. Ein Fall von jüdischem Selbsthaß? Baioni gibt sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Er zeigt, daß das Westjude-Sein für Kafka aufs engste verbunden ist mit der Existenz als Schriftsteller.

In seiner beeindruckenden Interpretation der Erzählung „In der Strafkolonie“ zeigt Baioni, was Schriftsteller-Sein für Kafka heißt. Die Reise in die Tropen, zur Besichtigung der grauenhaften Foltermaschine, deutet er als eine Reise in die alten Zeiten der Flaubertschen Literaturauffassung. (Flaubert war bekanntlich Kafkas Lieblingsautor.) In dieser alten Zeit waren Gesetz und Schönheit noch verbunden, und die ästhetischen Schnörkel, in denen das moralische Gebot enthalten war und die zur Strafe in den Rücken des Verurteilten geritzt wurden, brachten dem Verurteilten noch die Erkenntnis der Wahrheit und damit Erlösung.

Der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts konnte sich noch als Märtyrer der Wahrheit unter die Schreib-Maschine legen, als die Kafkas schrecklicher Apparat sich präsentiert; seine Rolle als Opfer konnte als Katharsis-Erfahrung noch einen Sinn für ihn und sein Publikum haben. Aber wer sich im 20. Jahrhundert wie Kafka, freiwillig, ohne gesellschaftlichen Auftrag, selbst zum Schreiben, zur Existenz des Schriftstellers verurteilt und in den literarischen Folterapparat begibt, wird Opfer nicht des Gesetzes, sondern eines selbsttätigen, sinnlosen Mechanismus, der ihm die Erkenntnis der Wahrheit mit einem einzigen Stachel durch die Stirn unmöglich macht.

Wie kommt es zu dieser Veränderung der Literatur-Maschine, zur Trennung von Schönheit und Wahrheit? Nach Baioni ist die Ästhetik der Décadence daran schuld, die einem reinen Formkult gehuldigt und so die poetischen schönen Bilder auf reine Wort- Dinge ohne Bedeutung reduziert habe: Die literarische Sprache wird zur sinnlosen Maschinerie.

Kafka nun hat sich nach Baioni dieser Entwicklung entgegenzustellen und wenigstens den verweisenden Gestus der Bilder festzuhalten versucht, auch wenn dieser auf keine Lehre mehr deutet. Seine Metaphern, Parabeln und Gleichnisse sind tautologisch, sie stellen ihr eigenes Funktionieren dar – in Kafkas Formulierung: „Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt.“ Einen Bezug zur außerliterarischen Welt gibt es nicht. Gerade darum können Kafkas Bilder eine eigene, phantastische Realität und eine schrecklich-schöne physische Präsenz wie der Käfer in der „Verwandlung“ gewinnen. Die Bilder geben dabei aber den metaphorischen Imperativ nicht auf, entlassen den Leser nicht aus der Pflicht, nach ihrem verhüllten Sinn zu suchen. Sie sind allmächtig und lebendig gewordene Lüge: aber auch das einzige Zeugnis dafür, daß es die Wahrheit überhaupt noch gibt.

Der solch terroristische Texte schreibt, ist der „Mann vom Lande“, der seine einsame Position außerhalb des Gesetzes und des wirklichen Lebens nicht aufgeben kann und will. Er ist auch der reisende Beobachter der Strafkolonie mit seiner monströsen, sadistischen Lust an der genauesten Beschreibung der Foltermaschine. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Neu ist aber die Identifikation dieses in Kafkas Prosa entworfenen Schriftstellerbildes mit dem zionistischen Feindbild des Westjuden. Baioni ist ein ebenso gründlicher Leser zionistischer Zeitschriften wie Kafka. Deswegen kann er mit einer Fülle von Zitaten nachweisen, daß Kafkas schriftstellerische Selbstdefinitionen teilweise sogar wörtlich identisch sind mit den Attributen des Westjuden: der als „Mann vom Lande“ getarnte Narziß, der sich mit einem bloßen Bild der Wirklichkeit zufriedengibt und sich weigert, in das Gesetz einzutreten; der sich an der schrecklichen Schönheit seiner Monstermetaphern freuende Ästhet, der nur Unnützes produziert; der parasitäre Intellektuelle, der von der Beobachtung seiner Mitmenschen lebt.

In diesen Figuren bestimmt sich der „westjüdischste der Westjuden“ als Schriftsteller. Der Westjude ist für Kafka also ein ambivalentes Bild: Einerseits steht er für moralische Verworfenheit und menschliche Einsamkeit. Andererseits bieten sich auch gegenüber allen anderen Menschen ausgezeichnete Möglichkeiten der Freiheit vom Gesetz, des Überblicks über das Leben der anderen als Unbeteiligter, die Lust am Beschreiben seiner eigenen Qual. Er ganz allein repräsentiert das „Negative seiner Zeit“ – das ist die Hybris des Westjuden und ungeheure Chance für den Schriftsteller zugleich.

Auf dieser Grundlage kann Baioni überzeugend zeigen, daß weder eine Ehe noch eine Bekehrung zur Frömmigkeit des osteuropäischen Judentums Kafka hätte „retten“ können. Kafka hat die autoritäre Struktur der von den Zionisten verherrlichten jüdischen Volksgemeinschaft erkannt, genauso wie den Zwangscharakter einer Ehe, die er als guter Zionist hätte eingehen sollen, um sich endlich als sozialer Mensch zu beweisen. Er blieb statt dessen lieber allein mit dem Glück, das er trotz aller Selbstvorwürfe im Schreiben fand.

Guiliano Baioni zeichnet die Auseinandersetzung Kafkas mit seiner Rolle als Schriftsteller und Westjude annähernd chronologisch als eine Art innerer Biographie an Kafkas Werken nach. Kafkas Weg stellt sich ihm dar als der Weg des Westjuden, der nach langen Kämpfen dahin gelangt, sein Schuldbewußtsein in Engagement umzuwandeln. So wird Kafka für Baioni doch noch zur moralisch wertvollen Persönlichkeit: Er habe zum Schluß seine westjüdische Identität akzeptiert und als Waffe gegen die westjüdische Zeit selber gerichtet, auf daß die dämonische Verblendung erkannt und die Wahrheit aus ihrem Gefängnis befreit werde.

Auch Baioni konnte also der Versuchung nicht widerstehen, Kafka zu retten. Leider zu Lasten der eigenen Argumentation, die gerade da überzeugt, wo sie die unendliche Freiheit und die Lust betont, die die Position des geächteten Westjuden für den Schriftsteller bietet. Vielleicht liegt dieser enttäuschende Schluß an dem zu starren Konzept, in dem jede Äußerung Kafkas auf die „westjüdische Zeit“ bezogen und in die Antithese Schönheit versus Wahrheit aufgelöst wird. Flexibler gehandhabt bedeutet Baionis Ansatz jedoch eine einmalige Chance, Kafkas Auffassung von der Rolle seiner Literatur in der Moderne zu erkennen.

Giuliano Baioni: „Kafka – Literatur und Judentum“. Aus dem Italienischen von Gertrud und Josef Billen. Metzler Verlag 1994, 320 Seiten, 68 DM

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