Korruption ist ein Denksystem

Beim Fußball geht es um eine Vielzahl von Spielern, die immer wieder neu organisiert werden müssen. Daher beginnt Fußball im Kopf. So ist es auch mit der Korruption  ■ Von Lutz Overbeck
und Viola Gräfin von Bethusy-Huc

Immer mehr WissenschaftlerInnen warnen davor, daß das Ökosystem Mensch davon bedroht ist, als Folge von „Fehleinschätzungen“ innerhalb der nächsten fünfzig bis siebzig Jahre entweder ganz oder teilweise aus dem sogenannten „Korridor der Evolution herauszufallen“. Das hat eine Diskussion entfacht, in der zwei Begriffe zunehmend ins Zentrum rücken: System und Korruption. Parallel hierzu sorgt Korruption aus anderen Gründen auch auf nationaler Ebene in Europa für Unruhe:

1. Korruption hat zwei Seiten, eine materielle und eine immaterielle. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, daß die Medienberichte zum Thema Korruption lediglich einen kleinen Teil der Wirkung beschreiben: die materielle Seite, das Wahrnehmbare, die Reibungsverluste, die Rückkopplungseffekte durch Korruption.

2. Es wird immer deutlicher, daß hinter der Einstellung: „Das hat es schon immer gegeben“, eine Duldsamkeit steht, die gesellschaftliche Zusammenbrüche bewirkt.

3. Immer breitere Kreise erkennen die inneren Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit, Konkursen, leeren Haushaltskassen und strukturellen Verarmungsprozessen einerseits und Korruption andererseits.

4. Die Einzelfalltheorie kippt. Korruption ist organisiert und auf Wiederholung ausgelegt. Diese Kenntnis hat die Berichterstattung verändert und liefert den methodischen Zugang zur qualitativen Bewertung von Korruption. Hinter dieser Veränderung steht ein Orientierungswechsel. Fachleute beschreiben entweder organisationsbedingte Zusammenhänge oder sprechen direkt von der systematischen Dimension der Korruption.

Bis hin zu den Vereinten Nationen und zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt sich diese Kenntnis zunehmend durch. Nach den Informationen der WHO ist die Menschheit von keiner Gefahr derart bedroht wie durch das System der Korruption. Hier klafft plötzlich eine Lücke, denn Korruption ist nicht definiert. Es existieren viele Beschreibungen, die Korruption erklären; sogar Staatsanwaltschaften sehen dies unterschiedlich. Auffällig daran ist, daß keine dieser Beschreibungen falsch ist, aber leider auch keine vollständig.

Das Wissen über Systeme/Organisationen öffnet ein erstes Tor zur qualitativen Kenntnis über Korruption. Im Zentrum steht die Antwort auf die Frage, was diese Strukturen entstehen läßt, wie sie wirken (Rückkopplungseffekte), wer sie letztendlich zu bezahlen hat und welche Rückschlüsse sich hieraus ergeben. Eine Konsequenz beschreibt Korruption als einen Prozeß, dessen stetig wachsende Dynamik aus verschiedenen Wechselbeziehungen zu Kräften resultiert, die bislang nicht mit Korruption in Verbindung gebracht worden sind.

Das griechische Wort Sýstema bedeutet wörtlich soviel wie „das Zusammengestellte“, „das Zusammengeordnete“. Die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen bilden ein soziologisches System, das sich wiederum aus einer quantitativ nicht darstellbaren Summe von Subsystemen zusammensetzt. Jedes Unternehmen, Verein, Familie, Kirche, Gerichte, Behörden bis hin zur Zweierbeziehung sind Subsysteme der Gesellschaft. Eines dieser Subsysteme ist das System Korruption. Allerdings bezieht sich die systematische Dimension der Korruption nicht auf den Bereich gegenständlicher Systeme, wie etwa das Ökosystem der Erde. Nein, bei Korruption handelt es sich um ein Denksystem, ähnlich dem Skat-, Monopoly-, Schach- oder Fußballspiel. Es beginnt im Kopf. Hinter dem Denksystem „Fußball“ steht eine Vielzahl von Spielen, die jedesmal neu organisiert werden müssen. So ist es auch im Denksystem Korruption zu sehen. Erst die Summe aller Einzelorganisationen repräsentiert das, was unter dem Denksystem Korruption zu sehen ist.

Bei Korruption geht es allerdings nicht um ein Spiel, sondern um eine auf Täuschung basierende Aufprägung eines Denksystems, das anfänglich persönliche Bereicherung verspricht, prinzipiell aber der Zahler der Sieger ist, weil eine weitere Macht-/Informationsquelle erschlossen wurde. In dem Moment, wo das klar wird, hat der Bestochene seine intellektuelle Unabhängigkeit für lange Zeit verloren, viele für immer. Dem Bestecher geht es nicht anders, wenn sich die Konsequenzen dieses Normenbruchs zeigen, mit denen man die Realität dadurch prägt, andere in erpreßbare Abhängigkeit zu ziehen, um demjenigen gegenüber die Zukunft vorhersagbar zu machen, dem gegenüber man ebenfalls in erpreßbarer Abhängigkeit steht. Der wissenschaftlich als unumkehrbarer Prozeß beschriebene Charakter dieser Systeme – was geschehen ist, kann nicht rückgängig gemacht werden – wirkt sich im Denksystem Korruption als fehlender Rückwärtsgang aus und treibt korrupte Menschen immer tiefer in den Raum der Illegalität. Der Bestochene hat zwar das Geld in der Hand und kann sich dafür ein Haus usw. kaufen, der Bestecher hat dagegen die Macht des Bestochenen fundamental gebrochen und gleichzeitig unter die Kontrolle des Korruptionssystems gebracht.

In den Medien steigt der Anteil der Berichterstattung über Korruption stetig. Das ist ein Indikator dafür, daß das bisherige System zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät. Die Folge ist zunächst eine verstärkte Dynamik – die sich, mathematisch betrachtet, geradezu als Indikator für den Grad an Ungleichgewichtigkeit anbietet –, mit dem Ziel, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Das jedoch hat seinerseits ein weiteres Auseinanderklaffen der Schere zwischen den vom System legitimierten Vorgängen und den illegalen Entwicklungen zur Folge.

Für das System der Korruption bedeuten derlei Vorgänge unter anderem, daß sie auch die Information bzw. den Fluß von Information unter Kontrolle bringen muß. Sie steht unter dem dauernden Zwang, Information zu integrieren, zu lenken, um jederzeit darüber verfügen zu können.

Das aber erfordert Kapital, immer mehr Kapital – es müssen ständig neue Strukturen finanziert werden, und ist das System irgendwann einmal nicht mehr dazu imstande, kommt es zum Kollaps.

Tatsächlich kennt die Geschichte, bisher jedenfalls, keine Korruptionssysteme, die sich aufgrund immer weiter erhöhten Kapitaleinsatzes bis ex und ultimo weiter erhalten konnten – irgendwann waren einmal keine Ressourcen mehr da. Die Information – zwecks Erhaltung der korrupten Organisation – wurde irgendwann unbezahlbar.

Vom wissenschaftlichen Standpunkt her läßt sich durch systematische Zuordnung der heute über Korruption vorliegenden Information ein Nachweis liefern, daß es sich hier um ein gesellschaftliches Subsystem handelt, das unabhängig von der politischen Verfassung zu wirken imstande ist. Es zwingt – durch Verschleierung und Täuschung, vor allem durch Streuung von Nachrichten und Einschätzungen – Menschen dazu, den Willen der Korrupteure zu vollziehen (was für diese eine genaue Planung der Zukunft ermöglicht). So gesehen beschreibt Korruption den organisierten, auf Wiederholung ausgelegten Diebstahl – von Lebensqualität und Lebenszeit derer, die in diesem System nicht als Handelnde vorkommen.