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Der Verlust der Stille

■ Tinnitus: ein lebenslanges Pfeifen im Ohr / Aus dem Leben einer Betroffenen

Er wohnt in mir. Er ist mein inneres Leben. Er ist mein Mahner. Er ist mein Freund. H.D. (43) spricht, wie eine fortgeschrittene, reife Tinnitus-Patientientin sprechen sollte. Kein Aufbegehren mehr, kein Protest, nur noch ein Hauch von Trauer. Statt dessen „positives Denken“. Er: das ist der kleine Mann in ihrem Ohr, der - mal lauter, mal leiser, aber immer - in ihr pfeift. Irgendwann muß jeder Tinnitus-Patient einsehen, daß es keinen Zweck hat, gegen den kleinen Mann zu kämpfen - um der seelischen Gesundheit willen. Dann beginnt die positive Denkarbeit. Sie kostet, das sieht man H.D. an, Kraft. Paradoxerweise hat der Tinnitus ihr aber auch Kraft gegeben.

Tinnitus - das war vor acht Jahren noch eine selbst unter Medizinern oft unbekannte Erkrankung des Innenohrs - genauer, das Symptom einer Erkrankung. H.D. überfiel der Tinnitus damals völlig unvorbereitet, nach einer mißglückten Yogaübung. Ein Halswirbel war angebrochen. Und es begann in ihrem Ohr zu fiepen. Sie kaufte sich Ohrentropfen, immer wieder neue, bis der Apotheker aufmerksam wurde und sie zum Arzt schickte. Der erkannte prompt und falsch auf nervöse Störung und verschrieb Schlaftabletten. H.D. wurde aber immer unruhiger, konnte nicht mehr einschlafen, sich nicht mehr konzentrieren. Das Ohrgeräusch veränderte sich, wurde immer hochfrequenter und schmerzhafter. Eines Tages sah sie im Fernsehn eine Sendung über Tinnitus. Da war sie glücklich. Endlich hatte der kleine Mann im Ohr einen Namen, es gab Adressen und Telefonnummern und Therapiemöglichkeiten.

Mit Grausen denkt H.D. an diese Zeit zurück. Schnelle, richtige Therapie hätte womöglich den Tinnitus überwunden. So mußte sie durch die Hölle, eine Formulierung, die auch andere Patienten verwenden. „Das erste Jahr ist immer das schwerste,“ berichtet H.D.; sie mußte ihre Arbeit als Kindergärtnerin aufgeben, weil sie den Krach nicht aushielt, der den Tinnitus verschlimmerte. Sehr gern und gut - wie sie jederzeit vorführen kann - hatte sie Lieder wie Alexandras „Sehnsucht heißt das Lied der Balalaika“ gesungen. Vorbei. Schwierigkeiten mit dem Partner deutet sie nur an: „Auch bei der Liebe ist der Tinnitus immer da.“ Mühsam begann ein neues Leben. Mit Hilfe der Deutschen Tinnitus Liga (DTL).

Die Liga ist eine Privatinitiative Betroffener, die sich 1986 in Wuppertal gründete und heute über 12.000 Mitglieder hat (in Bremen: 150). Sie hatte zunächst die allgemeine Unwissenheit über diese Krankheit zu bekämpfen, die selbst unter Medizinern noch als eine Abart der Hysterie gehandelt wurde. Therapieformen wie Infusionen und Unterdrucktherapie waren nur sporadisch bekannt. Die DTL begründete ein Netz von Selbsthilfegruppen; in Bremen existieren zwei, bei Bedarf werden neue gebildet. Nach Angaben der Liga leiden 5,2 Millionen Deutsche an einem „mäßigen“ Tinnitus, 650.000 an einem schweren Tinnitus mit „einschneidender Beeinträchtigung von Lebensqualität“ unter anderem „durch Depressionen und Angstreaktion“. In schweren Fällen besteht Suizidgefahr. Mit 90 Dezibel kann es im Ohr wummern, kreischen oder zischen, das ist so laut wie ein Preßlufthammer in einem Meter Entfernung.

Die Heilungsaussischten sind schlecht (ca. 5%). Lindern heißt die Devise, und das geschieht meist und erfolgreich durch autogenes Training, Yoga und alle möglichen Meditationen; weil diese Leute auffallend oft ein Problem mit dem Nein-Sagen haben und zur Selbstüberforderung neigen, kann auch Psychotherapie hilfreich sein. Die Industrie stellt Geräte zur Verfügung, sog. Masker, die das Ohrgeräusch übertönen können.

H.D. ist heute eine aktive Frau, die mehr schafft als früher mit weniger Streß. Sie ist von einer unauffälligen Kindergärtnerin zur gefagten Referentin geworden, hilft in Selbsthilfegruppen und produziert mit ihrer „erotischen Stimme, auf die besonders Männer fliegen“ Kassetten - für autogenes Training und als Einschlafhilfe. Daneben arbeitet sie als Tagesmutter mit einigen Kindern in einem ruhigen Rahmen. Der kleine Mann spricht zur Zeit mit rund 40 Dezibel: Die kann sie manchmal überhören.

Und woher kommt der Tinnitus? Das weiß niemand so recht. Manche haben ihn als Folge eines Knalltraumas (Bundeswehr, Silvester); andere infolge einer Ohrentzündung; ein Peter-Maffay-Konzert reicht manchmal schon oder ein Preßlufthammer. Es scheint ein Disposition zu geben; viele Betroffene sehen die Krankheit als Antwort auf Streß oder persönliche Krisen. Rätselhaft ist eine scheinbare Ansteckungsmöglichkeit: Ehepartner oder Kinder erleiden ohne jede bakterielle Infektion manchmal dasselbe Schicksal wie ihre Angehörigen. Der Gründer der DTL, ein Betroffener namens Hans Knör, hat z.B. eine Geschäftsführerin, die geradezu sympathetisch dasselbe Schicksal ereilte. Inzwischen sind sie verheiratet.

Burkhard Straßmann

Kontakt: Tinnitus Liga,

Tel. 0202/464584

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