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■ Des US-Präsidenten Rede zur Lage der NationSame Bill as last year

Es sollte wieder einmal eine „Schicksalsrede“ sein. Ein „historisches Ereignis“. Clintons soundsovielte letzte Chance, „sich neu zu erfinden“. Am Ende dauerte das Ganze fast 90 Minuten. Historisch einmalig war eigentlich nur der Umstand, daß die Rede zeitgleich auf dem Internet abgerufen werden konnte. Schicksalhaftes ereignete sich an diesem Tag eher auf der anderen Seite des Landes. In Los Angeles stritt man darüber, ob der Prozeß gegen O.J. Simpson weiter im Fernsehen übertragen werden darf. Es war auch kein „neuer“, sondern der „alte“ Bill Clinton, der da zur Lage der Nation sprach: kompromißbereit und um Zustimmung aus allen Seiten bemüht. Die versammelten Kongreßmitglieder lieferten sich Klatschduelle, weil der Präsident wie bei einer Fütterung verfeindeter Katzen die Brocken gleichmäßig mal in die eine, mal in die andere Richtung warf.

Es war, zugegebenermaßen, ein höchst schwieriges Unterfangen, auf das er sich da einließ. Es galt, originäre Clinton-Themen wie zum Beispiel die Reform der bundesstaatlichen Bürokratie vom Kleister der republikanischen „Hau-weg-den-Staat“-Rhetorik zu befreien und wieder für sich zu reklamieren. Hinter diesem Punkt verbirgt sich weit mehr als die Reduzierung von Antragsformularen für Kredite an Kleinunternehmer. Hier geht es grundsätzlich um die Rolle des Staates in einer Ökonomie, in der selbst in Phasen des Aufschwungs die Erosion der Löhne für einen erheblichen Teil der amerikanischen Mittelschicht voranschreitet. Ganz zu schweigen von denen, die für den gesetzlichen Mindestlohn oder weniger schuften.

Mit seinem Wahlsieg 1992 hatte Bill Clinton mit dem Dogma und der Folklore vom Staat als natürlichem Feind des Bürgers gebrochen. Zwei Jahre später wählten nicht einmal 25 Prozent der Wahlberechtigten eine republikanische Mehrheit in beide Kammern des Parlaments. Das ist – allem Revolutionsgebrabbel eines Newt Gingrich zum Trotz – kein Wählermandat für eine neue Orgie des sozialen Kahlschlags und der Deregulierung. Dies in seiner Rede festzustellen, wäre ein erster wichtiger Schritt zur Profilierung und Abgrenzung gegenüber den „Newtoids“ gewesen. Doch nach seinem 82minütigen Monolog an die Nation bestätigte sich eher der Verdacht, daß sich Bill Clinton auf den populistischen Wettstreit mit den „Republikanern“ einläßt, wer denn mehr Staat abbauen und mehr Steuern senken könne. Der Wahlkampf ist eröffnet. Andrea Böhm, Washington

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