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Die Einübung auf den Tod

Um auch nur die geringste Chance eines Überlebens zu haben, mußten jüdische Kinder im KZ zu Erwachsenen werden / Erinnerung und Schreiben am Beispiel einiger, hauptsächlich weiblicher Autobiographien  ■ Von Mona Körte

„Vor jedem [SS-Mann] eine Schlange nackter Frauen ... Ich sagte mein Alter, er wies mich ab, mit einem Kopfschütteln, einfach so ... In seinem Kopfschütteln lag der Beweis dafür, daß ich mir mein Leben erschlichen hatte ... Der Unterschied zwischen Zwölf und Fünfzehn ist riesig für eine Zwölfjährige. Es war ein ganzes Viertel gelebten Lebens, das ich dazuaddieren sollte ... drei Jahre, wo sollte ich die hernehmen?“ Derart beschreibt Ruth Klüger in ihrer Autobiographie „über leben“ das Dilemma des Kindes, das zum Zeitsprung ansetzen muß, um dem sicheren Tod zu entgehen.

Die Erinnerungen von Schoschana Rabinovici, Stella Müller- Madej, Ruth Klüger, Renata Yesner, Halina Birenbaum und Hanna Mandel handeln ebenso wie Louis Begleys autobiographischer Roman von jüdischen Kindern, deren Kindheit irgendwo zwischen Ghetto und KZ begraben liegt. Kaunas, Krakau, Wilna, Auschwitz, Theresienstadt, Kaiserwald, Stutthof, Brennlitz, Tauentzien heißen die in das Gedächtnis eingeschriebenen Orte. Ihre Überlebenstexte erzählen von der Vertreibung aus der Kindheit, von Kindern, denen auf fatale Weise nichts gehört, weder ihr Alter noch ihr Körper, oft nicht ihr Name, geschweige denn der eigene Tod.

In den Autobiographien gerät bereits das Ghetto durch die „Kinderaktionen“ zum Ort einer perfiden Initiation in die Welt der Erwachsenen. Den zwischen 1930 und 1933 geborenen Kindern fehlen die entscheidenden drei bis sechs Jahre, mit Hilfe derer sie ihr Leben verlängern könnten. Ihr Überleben ist mit einem Zeitsprung verbunden, der sie stolz, aber auch unendlich einsam macht: Kaum ein Kind hat die „Säuberung“ der Ghettos überlebt, und sie müssen als Erwachsene aus ihrem Versteck hervorkommen, wollen sie ihr Leben durch den Beweis ihrer Arbeitstauglichkeit verlängern.

Im Rennen um die Zeit wirken die Mütter in den Augen der Kinder wie strenge Befehlshaberinnen, die ihnen die Kindheit abspenstig machen und sie an die furchtbare Gegenwart verraten. Der mit Watte drapierte BH, das dick aufgetragene Rouge, die Hochfrisur sind die unabdingbaren und lästigen Requisiten, mit denen die Mädchen gegen den Tod durch Selektion antreten.

Der kleine Maciek, Protagonist in Louis Begleys autobiographischem Roman „Lügen in Zeiten des Krieges“ überlebt in Polen unter vielen fremden Namen und mit Hilfe der professionalisierten Verstellungskünste seiner geliebten Tante Tanja. Ihrem (Über-)Leben in vielen Verstecken als Mutter und Sohn katholischer Herkunft liegen mühselig einstudierte Texte zugrunde. Neben der zwanghaften Selbstbeobachtung – denn Versprecher bezahlt man in diesem Stück, in dem selbst im Traum der Vorhang nicht fällt, mit dem Leben – wird jedes Wort, jede unwillkürliche Geste Macieks kommentiert und mit der Taktik des Liebesentzugs bestraft.

Der Autor beschreibt das Leiden an dem inquisitorischen Aspekt der Liebes- als Zwangsgemeinschaft, in der Schützen und Herrschen so heillos ineinander verwoben sind. Während die Erwachsenen Geheimnisträger sind, da sie das unteilbare Recht über ihren Körper haben oder, wie in Ruth Klügers Erinnerungen, über ein Geheimwissen in Todesangelegenheiten verfügen – „Der Tod, nicht Sex war das Geheimnis, worüber die Erwachsenen tuschelten, wovon man gern mehr gehört hätte“ –, müssen sich die Kinder, um zu Überleben, den Erwachsenen mit Haut und Haar überantworten.

Maciek muß seine Rolle virtuos spielen, denn er trägt das untrügliche Merkmal seiner Herkunft am Leib. Er ist beschnitten.

Tödliche Zeichen

Die frühe Einübung auf den Tod wird zur wichtigsten Initiation in das Leben, denn das ist es, was der kleine Maciek in Begleys Roman als erstes von seiner Tante lernt: „Tanja wollte mir wenigstens beibringen, was ein Jude zu tun hat, wenn sein Tod kommt: den Kopf bedecken, notfalls nur mit den Händen, und dann mit lauter Stimme beten: Sch'ma Israel, Adonai elochei ... Ein Jude, der das ruft, stirbt nicht allein, er ist im Tod verbunden mit allen, die gewesen sind und noch sein werden.“

In einer verkehrten Welt, in der der schnelle Tod nicht selten die Freiheit bedeutet, wechseln die Erinnerungsstücke der noch Lebenden. In Renata Yesners Beschreibung des Ghettos von Kaunas „Jeder Tag war Jom Kippur“ wird ein von der „Kinderaktion“ zurückgebliebener, blutiger Schuh zum Fetisch, in ihm wird die gewaltsam zerrissene Liebe bewahrt und die Zeit der Rache beschworen.

Ihren letzten Aufenthalt in der Topographie des Schreckens erlebt Renata als einen Ort ohne elektrischen Stacheldrahtzaun, der bisher Surrogat und Erinnerungsspur einer Freiheit war, da er die Wahl und den Zeitpunkt des Todes offenließ. Der Widersinn wird zur wesentlichen Bestimmung und Kategorie der alltäglichen Rituale: Hindernisse, Todeszäune bergen die bisher ungeahnte Möglichkeit, sich in die Freiheit – den Tod – zu retten.

Aus der Erfahrung lernen die Kinder, tödliche Zeichen zu deuten. Die geringste optische Veränderung, ein Tischerücken, liest sich für Stella Müller-Madej als Ankündigung des Todes. Wenig verwunderlich ist da Stellas Vertrautheit mit dem mechanischen Verhalten des kleinen Samus im Lager von Plaszow, der – krank vor Angst – alle Sekunden sein Versteck unter dem Bett erprobt und „Verstecken Samus, tommt, macht Samus piff-paff“ vor sich hinbrabbelt. Was weiß der Dreijährige, dessen Sprache in der Lautmalerei von Schüssen besteht, vom Tod?

Kriegsspiele

Die Kinder schleifen sich ihr eigenes Glas, durch das sie die Ghetto- und Lagerwelt tausendmal gebrochen sehen. Dabei werden sie durch die „Kinderaktionen“ immer einsamer und fechten mit ihren Mitteln den Krieg um die eigene Unversehrtheit aus. Sie übertragen den Zauber und die Figuren kindlicher Märchenwelten auf die Realität und schützen sich vor Wörtern und Begriffen, indem sie sich „verhören“ oder sie umdeuten. Gemeinsam mit seiner Tante Tanja denkt sich der kleine Maciek den Krieg personifiziert als „Monsieur Guerre“, der als Friseur für Tanjas neuen Haarstil verantwortlich ist. In Stellas Kopf werden aus Sträflingen angesichts ihrer Kleidung „Streiflinge“, für Ruth muß die „mosaische Religion“ etwas mit einem Mosaik zu tun haben, das sie noch aus ihrer Kinderzeit in Wien kennt.

Die Kinder wählen sich ihre eigenen Kriegsschauplätze: Renata will Begriffen wie SS, Gestapo, Auschwitz, die im Mund geführt so gefährlich und verletzend sind wie Waffen, entgehen, indem sie in den neuen Wörtern die alten Vorstellungen und Sehnsüchte zu retten versucht. Als sie in Stutthof der SS gegenüber steht, denkt sie, die SS habe etwas mit der Befehlsform des Verbs „essen“ zu tun. Ihre Wortassoziationen geraten dabei zu grotesken Projektionen, da doch die SS ihr eben genau das verweigert, was sich für sie in deren Namen ausdrückt – Essen. Was bei Renata der Krieg der Wörter, Zeichen und Embleme, auf deren Bedeutung durch den Wechsel der Systeme kein Verlaß ist, sind bei Begley die Regimenter aus Bleisoldaten, die er dem wirklichen Kriegsschauplatz entsprechend strategisch positioniert. Sein Krieg der Bleisoldaten vertritt den eigentlichen Krieg, der sich jedoch als unbeeinflußbar erweist.

Orte

Auschwitz durchzieht die Autobiographien als Schreckenswort und Schreckensort, für den die Erinnerung keine Poetisierung bereithält, und an dem das Gedächtnis zum Fluch wird. Auschwitz war „der abwegigste Ort, den ich je betrat, und die Erinnerung daran bleibt ein Fremdkörper in der Seele, etwa wie eine nicht operierbare Bleikugel im Leib“, so Ruth Klüger. Auschwitz als verminter Trümmerort im Gedächtnisraum, den die Erinnerungen in seinem Ausmaß nicht betreten haben.

Hanna Mandels Beschreibung „Mach weiter, es lohnt sich“ handelt von den „Schwierigkeiten, Auschwitz zu überleben“. Sie nämlich hat „ihren besseren Teil“, ihre nur zwei Jahre jüngere, aber wesentlich weniger entwickelte Schwester in Auschwitz verloren. Der Zufall, der die eine Schwester mit einer anderen Physiognomie, einer anderen Entwicklungslinie ausstattet, ist kein Trost. Die letzten Bilder an die kranke Schwester sind als stützende und zugleich bohrende Pfeiler in das Gedächtnis hineingewachsen.

Letzte Bilder, Briefe, Zufälle bilden die Daten der Chronologie, denen die Autobiographien folgen. „Die Erinnerung spült zurück. Die meisten von uns, die den Judenstern getragen haben, meinen, sie hätten ihn schon viel früher tragen müssen. Auch ich irre mich da, muß nachschlagen.“ (Ruth Klüger) Jede hat ihr ureigenes erstes Erlebnis der Ausgrenzung, das vor 1941 stattfand; in der Erinnerung heften sich die Daten also oft an die Erlebnisse und nicht umgekehrt.

Zudem müssen nach dem Krieg die eigenen Lebensdaten neu aufgeschüttet werden. Aus den KZs und Verstecken kehren Kinder zurück, deren Daten fragwürdig geworden sind und deren Leid in Lebensjahren wohl kaum zu (er)zählen ist: „Generationen hatte ich hinter mir gelassen, eine Ewigkeit an Zeit und Ereignissen“, charakterisiert Halina Birenbaum ihr Zeitgefühl in ihrem autobiographischen Essay „Rückkehr einer Kind-Greisin aus Auschwitz“. Dort wo das ewige Rechnen und Aufstocken der Lebensjahre Lebens-Überlebenszeit war, hat sich die biographische Spur der Kindheit verloren. Die Kinder haben ihren Müttern, die oft über Nacht schlohweiß wurden, beim Altern zugesehen, und selbst kehren sie zurück als Kinder-Greise.

In ihre Haut vor dem Krieg finden sie nicht zurück. Renata Yesners Geburtsdatum und Geburtsort lauten bis heute auf die nach dem Krieg erworbenen falschen Papiere, für Schoschana folgt 1945 auf den 18. der 13. Geburtstag und auch Begleys Maciek wird sich für einen der vielen fiktiven Lebensentwürfe entscheiden, um der weiteren Verfolgung als Jude in Polen nach 1945 zu entgehen.

Erinnern, Schreiben

„Wer schreibt, lebt“, konstatiert Ruth Klüger als unlösbares Problem des autobiographischen Schreibens Überlebender. Die Fähigkeit, den allgegenwärtigen Tod, den man selbst nicht erlitten hat, im Schreiben einzufangen, wird bei ihr zur Kunst. Die Texte, seien es frühe Gedichte oder die Autobiographie, figurieren dabei als ein zweites Gedächtnis, dem man sich eher gewachsen fühlt, da sie einen Anfang und ein Ende haben.

Die Erfindung einer Zukunft knüpft sich an den Gedanken einer Literarisierung des Erlebten und umgekehrt, was bei Schoschana damit beginnt, daß sie Buchstaben in den Sand zeichnet, um sich im Schreiben zu üben. Ermutigt durch die ältere Freundin Rachel, die ihre Gedichte korrigiert, denkt sich Schoschana ihr Ghetto- und KZ-Leben bereits zwischen den Seiten eines Buches aufgehoben. Die Freundin hilft ihr, Abgelebtes auf die Kapitel eines späteren Buches zu verteilen und tröstet sie damit, da jeder Abschnitt einmal zu Ende geht: „Siehst du, Susie, alles findet ein Ende ... mit dem Kapitel Kaiserwald ist nun Schluß ... Wieder schlagen wir ein neues Blatt auf. Den vergangenen Abschnitt werden wir einfach gwno nennen – Scheiße.“

Gespenster

In einem der KZ-Gedichte von Ruth Klüger trägt der Vater die Siebenmeilenstiefel eines Zauberers und Zeitüberwinders. Daß die Eltern Zeit und Raum unterliegen, ist vielleicht eine der größten Enttäuschungen der Überlebenden jüdischen Kinder. Die Ermordeten, die Väter, Geschwister, Mütter und Freunde kehren zurück als Gespenster, unerlöst geistern sie als Erinnerungen im Gedächtnisraum und nisten sich ein. Unerlöst auch deshalb, weil die in der Kindheit entstandenen Bilder und Gefühle unwandelbar sind, sich nicht ergänzen oder korrigieren lassen. Die Toten sind die heimlichen Auftraggeber autobiographischer Erinnerungen; die Texte sind der Ort ihrer Aufb(ew)ahrung. Als „Ghostwriter“ haben sie sich in das Gedächtnis der Überlebenden hineingeschrieben.

In Louis Begleys Roman sucht der Erzähler in der 2.000jährigen Geschichte der Literatur neben Allegorien der Scham, am Leben geblieben zu sein, vergeblich nach Gespenstern, die den eigenen gleichen. Für diejenigen Opfer des Holocaust, die sie sich so „gottergeben quälen (ließen), ohne sich zu wehren“, und die man nicht wie Tanja oder den Großvater ihres Mutes wegen bewundern kann, finden sich keine Vorbilder unter den Bewohnern literarischer Höllen. Sie nämlich schmoren niemals unverdient in der Hölle; seine Gespenster haben nichts mit ihnen gemein.

Gespenstisch ist den Überlebenden schließlich ihr eigener Anblick: Stella Müller-Madej sieht im Spiegel ein Gesicht, bestehend aus riesigen, schwarzen Augen, die zuviel gesehen haben.

„Piff-paff“ tönt es wie von weit her und gräbt sich ein ins Gedächtnis.

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